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Was Bleibt

Was Bleibt

Titel: Was Bleibt
Autoren: Christa Wolf
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Nur keine Angst. In jener anderen Sprache, die ich im Ohr, noch nicht auf der Zunge habe, werde ich eines Tages auch darüber reden. Heute, das wußte ich, wäre es noch zu früh. Aber würde ich spüren, wenn es an der Zeit ist? Würde ich meine Sprache je finden? Einmal würde ich alt sein. Und wie würde ich mich dieser Tage dann erinnern? Der Schreck zog etwas in mir zusammen, das sich bei Freude ausdehnt. Wann war ich zuletzt froh gewesen? Das wollte ich jetzt nicht wissen. Wissen wollte ich – es war ein Morgen im März, kühl, grau, auch nicht mehr allzu früh –, wie ich in zehn, zwanzig Jahren an diesen noch frischen, noch nicht abgelebten Tag zurückdenken würde. Alarmiert, als läute in mir eine Glocke Sturm, sprang ich auf und fand mich schon barfuß auf dem schön gemusterten Teppich im Berliner Zimmer, sah mich die Vorhänge zurückreißen, das Fenster zum Hinterhof öffnen, der von überquellenden Mülltonnen und Bauschutt besetzt, aber menschenleer war, wie für immer verlassen von den Kindern mit ihren Fahrrädern und Kofferradios, von den Klempnern und Bauleuten, selbst von Frau G., die später in Kittelschürze und grüner Strickmütze herunterkommen würde, um die Kartons der Samenhandlung, der Parfümerie und des Intershops aus den großen Drahtcontainern zu nehmen, sie platt zu drücken,zu handlichen Ballen zu verschnüren und auf ihrem vierrädrigen Karren zum Altstoffhändler um die Ecke zu bringen. Sie würde laut schimpfen über die Mieter, die ihre leeren Flaschen aus Bequemlichkeit in die Mülltonnen warfen, anstatt sie säuberlich in den bereitgestellten Kisten zu stapeln, über die Spätheimkehrer, die beinahe jede Nacht die vordere Haustür aufbrachen, weil sie immer wieder ihren Schlüssel vergaßen, über die Kommunale Wohnungsverwaltung, die es nicht fertigbrachte, eine Klingelleitung zu legen, am meisten aber über die Betrunkenen aus dem Hotelrestaurant im Nebenhaus, die unverfroren hinter der aufgebrochenen Haustür ihr Wasser abschlugen.
    Die kleinen Tricks, die ich mir jeden Morgen erlaubte: ein paar Zeitungen vom Tisch raffen und sie in den Zeitungsständer stecken, Tischdecken im Vorübergehen glattstreichen, Gläser zusammenstellen, ein Lied summen (»Geht nicht, sagten kluge Leute, zweimal zwei ist niemals drei«), wohl wissend, alles, was ich tat, war Vorwand, in Wirklichkeit war ich, wie an der Schnur gezogen, unterwegs zum vorderen Zimmer, zu dem großen Erkerfenster, das auf die Friedrichstraße blickte und durch das zwar keine Morgensonne hereinfiel, denn es war ein sonnenarmes Frühjahr, aber doch Morgenlicht, das ich liebe, und von dem ich mir einen gehörigen Vorrat anlegen wollte, um in finsteren Zeiten davon zu zehren.
    Aber das weiß ich doch, daß man durch willentlichen Entschluß keinen Himmelsschatz erwirbt, der sich unter der Hand vermehrt; weiß doch: Alle Nahrung über des Leibes Notdurft hinaus wächst uns zu, ohne daß wir sie Stück um Stück zusammentragen müßten oder dürften, sie sammelt sich von selbst, und ich fürchte ja, alle diese wüsten Tage würden nichts beisteuern zu dieser dauerhaften Wegzehrung und deshalb unaufhaltbar im Strom des Vergessens abtreiben. In heller Angst, in panischer Angst wollte ich mich jetzt an einen dieser dem Untergang geweihten Tage klammern und ihn festhalten, egal, was ich zu fassen kriegen würde, ob er banal sein würde oder schwerwiegend, und ob er sich schnell ergab oder sich sträuben würde bis zuletzt. So stand ich also, wie jeden Morgen, hinter der Gardine, die dazu angebracht worden war, daß ich mich hinter ihr verbergen konnte, und blickte, hoffentlich ungesehen, hinüber zum großen Parkplatz jenseits der Friedrichstraße.
    Übrigens standen sie nicht da. Wenn ich recht sah – die Brille hatte ich mir natürlich aufgesetzt –, waren alle Autos in der ersten und auch die in der zweiten Parkreihe leer. Anfangs, zwei Jahre war es her, daran maß ich die Zeit, hatte ich mich ja von den hohen Kopfstützen mancher Kraftfahrzeuge täuschen lassen, hatte sie für Köpfe gehalten und ob ihrer Unbeweglichkeit beklommen bestaunt; nicht, daß mir gar keine Fehler mehr unterliefen,aber über dieses Stadium war ich hinaus. Köpfe sind ungleichmäßig geformt, beweglich, Kopfstützen gleichförmig, abgerundet, steil – ein gewaltiger Unterschied, den ich irgendwann einmal genau beschreiben könnte, in meiner neuen Sprache, die härter sein würde als die, in der ich immer noch denken mußte. Wie hartnäckig die
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