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Sax

Sax

Titel: Sax
Autoren: Adolf Muschg
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verschwunden, die Mutter sei sogar ins «Eiserne Zeit» zurückgekehrt, ohne Dank für Frau Moser, deren Porträt an der Wand sie nicht habe dulden wollen. Im Frühjahr 1955 habe es wieder zu klopfen begonnen, diesmal wie mit dem Taktstock eines Dirigenten, der dem Stimmen von Instrumenten Schweigen gebietet. Gleichzeitig habe sich ein widerwärtiges Schnalzen vernehmen lassen und, wie das Ticken eines Metronoms, auch dann fortgesetzt, wenn es in den Wänden angefangen habe zu singen und zu klingen, anfangs wie aus weiter Ferne. Dann aber habe sich die Musik zum Brandungslärm gesteigert, und darin habe man Stimmen gehört wie von ewig Verdammten. Immer deutlicher sei auch die Stimme einer Frau herausgetreten, zwischen Jubel und Klage unablässig verfolgt vom Schnalzen des Dirigenten. Die Musik habe nach Wagner geklungen, doch als würden die Noten rückwärts oder sonst verkehrt gespielt. Auch diesmal sei nur die engste Familie betroffen gewesen. Wenn Peter und Doris versucht hätten, Mutter aus ihrer Depression zu reißen, habe sie gefragt, warum sie da seien. Sie habe nie Kinder gewollt, schon gar nicht von diesem Mann.
    Peter Leu schien entschlossen, seinem Zuhörer und auch sich selbst nichts zu ersparen. In den späten fünfziger Jahren hatte der Vater eine bescheidene Dreizimmerwohnung gemietet und kam nur noch selten ins Geschäft, wo Peter Leu das Steuer übernommen hatte. Doris, die pflegen gelernt hatte, verdiente auf jedeWeise Geld, um nach Neuseeland auszuwandern. Der Vater habe noch ein paarmal versucht, die Mutter nach Hause zu nehmen, aber sie blieb tagelang im Bett, und wenn man sie ansprach, antwortete sie mit Schnalzen. Plötzlich fing sie zu fotografieren an und wanderte tagelang in der Stadt herum, um asiatisch aussehende Frauen zu suchen und sie erst zu beschimpfen, dann zu fotografieren. Auch sich selbst fotografierte sie splitternackt vor dem Spiegel, dann zog sie den Film aus der Kamera und drapierte sich damit. In einem Modegeschäft probierte sie ein Kleid ums andere und lief dann in Unterwäsche auf die Bahnhofstraße, wo die Polizei sie festhielt. Im Irrenhaus sei sie durch eindeutige Angebote an Ärzte und Pfleger aufgefallen sowie durch anhaltendes Schnalzen. Erst eine Behandlung mit Elektroschock habe sie ruhiggestellt, dann freilich so massiv, daß sie sich nur noch wie ein Automat bewegt habe. Zum Glück – so müsse man leider sagen – habe dann ein Schlaganfall dem Unglücksleben ein gnädiges Ende bereitet. Vater habe sich danach kaum noch unter Menschen gewagt. Nur für den Besuch seiner Rotarier-Essen habe er sich noch umständlich feingemacht, um den Sohn als Nachfolger gut einzuführen. Im eigenen Fall …
    Diese Wendung, die Peter Leu immer öfter gebrauchte, kam Schinz unfreiwillig passend vor, wenn er den Mann im Halbdunkel gestikulieren sah; nur sein Kragen leuchtete noch, und die auf und ab fahrenden Manschetten. Im eigenen Fall also hatte sich Peter verlobt, mit Elisabeth, der Arzttochter, bei der die Aussicht auf eine schöne Wohnung in der Altstadt die Bedenken überwog, in eine zerrüttete Familie einzuheiraten. Sie legte ihre Mitgift in Stilmöbeln an.
    Du hast sie ja gesehen, sagte Leu.
    Sogar das Bild Fanny Mosers hängt wieder da.
    Anfangs hat Elisabeth sogar meinen Vater ertragen. Er erschien mit einer jungen Pflegerin auf unserer Hochzeit. Das Leben war ihm über den Kopf gewachsen. Er war zuckerkrank und hinterließ einen Kühlschrank, der bis zum Bersten voll war mit Torten und Zuckerzeug. Seine Schulden habe ich bezahlt. Seine Pflegerin erzählte,am Morgen seines Todes sei er mit über Nacht weißem Haar aus seinem Zimmer gekommen und habe nur noch gesagt: «Jetzt verstehe ich alles.»
    Was denn? fragte Schinz.
    Er meinte, er habe in jüngeren Jahren die Geister gelästert.
    Gelästert?
fragte Schinz.
    Als er bei den Rotariern aufgenommen wurde, noch im Krieg. Sein Haus sei früher als Gespensterhaus bekannt gewesen, aber jetzt verrate er den Herren ein Geheimnis. In Wirklichkeit sei es ein Puff gewesen.
    Und wenn schon? fragte Thomas Schinz.
    Das hätten ihm die Geister nie verziehen. Dafür brächten sie ihn zur Strecke. Inzwischen bin ich bald selbst so weit. Es wiederholt sich. Thomas, es ist ein
Fluch
.
    Unsinn, sagte Schinz. – Elisabeth ist doch nicht wegen der Geister ausgezogen.
    Der Tinnitus reicht auch, sagte Peter Leu.
    Gegen den gibt es Mittel, soviel ich weiß.
    Nicht gegen meinen. Ich krieg ihn ja nur auf dem Dach, in der Wohnung wird er
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