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Sax

Sax

Titel: Sax
Autoren: Adolf Muschg
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schwören. KeinWort zu niemandem, auch nicht zu Mara. Und du mußt mich zu Ende hören. Du bist der erste Mensch …
    Schinz hatte nicht mit so viel Zeitaufwand gerechnet. Aber bald maß er ihn nicht mehr, obwohl der Glockenschlag der Augustinerkirche regelmäßig mahnte. Auch dachte keiner daran, Licht zu machen, und so schien der Erzähler allmählich selbst Teil der Finsternis zu werden, die seine Erzählung verbreitete.
    Angefangen hatte alles nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis 1946 bewohnte die elterliche Familie mit den damals dreijährigen Zwillingen Peter und Doris den vierten Stock des «Eisernen Zeit»; die unteren Etagen gehörten dem Geschäft. Dann beschloß Vater Leonhard, das bisher nur als Dachboden verwendete Laboratorium des Astronomen wohnlich zu gestalten, mit Schlafzimmern und Bad. Auf der rechten Seite wurde ein offener Kamin eingebaut, da kam auch eine Leseecke hin und das Spinett der Hausfrau. Auf der anderen Seite schliefen die Kinder gemeinsam im hinteren Raum, solange sie klein waren, und im vorderen die Mutter. Später erbte ihn Peter, aber es wurde nie ein eigenes Zimmer. Es lag mitten in einem Trampelpfad für jedermann, angeblich, weil Jungen eigentlich gar kein Zimmer brauchten, sondern an die frische Luft gehörten. Und doch wollte er eine glückliche Kindheit gehabt haben – bis zum 24. September 1948.
    Beim Abendessen hatte der Vater noch gesagt: Es gibt bald wieder Krieg. In der Nacht wurden die Eltern zum ersten Mal durch Klopfgeräusche aus dem Schlaf geschreckt. Es war zwei Uhr früh, aber das Klopfen klang so dringlich, daß der Vater unwillkürlich
Herein!
gerufen hatte. Als ihm nur Stille antwortete, glaubte er sich verhört zu haben und war kaum wieder eingenickt, als sich das Klopfen wiederholte, ein Wirbel wie von trommelnden Knöcheln. Doch im Badezimmer fand sich kein Mensch, auch in den Kinderzimmern blieb alles still. Zur Sicherheit stieg der Vater in die tieferen Etagen ab; auch in den Geschäftsräumen zeigte sich nichts Verdächtiges. Als er wieder ins Schlafzimmer trat, sagte die Mutterschreckensbleich: gerade habe es wieder geklopft, dreimal, jedesmal stärker. Das Phänomen wiederholte sich nicht, doch an Einschlafen war nicht mehr zu denken. Am Morgen aber fragte die fünfjährige Doris, wer die ganze Nacht gehämmert habe.
    In der nächsten Nacht war Peter erwacht, weil eine kühle Hand über sein Gesicht gestrichen hatte. Er schrie laut, und als die Mutter hereinstürzte und Licht machte, hatten beide zuvor eine undeutliche Gestalt im Fenster verschwinden sehen. Bald zeigte sich der Spuk auch am hellichten Tag. Plötzlich waren im Kaminzimmer alle Bilder umgedreht. Natürlich dachten die Eltern zuerst an einen dummen Streich, aber als man gemeinsam weggewesen war, hingen die Bilder hinter verriegelter Tür zum zweiten Mal verkehrt. Bald war auch die Wohnetage nicht mehr sicher. Spiegel fielen von der Wand, ohne zu zerbrechen, Wollknäuel hüpften durch den Raum, als würden sie von einer Katze gejagt. Manchmal gingen Schritte, klapperte Geschirr, klirrten Ketten, und eines Nachmittags, als man auf der Terrasse saß, hörte man einen dumpfen Knall. Im Kaminzimmer war ein schwerer Tisch ohne Ursache umgestürzt; ein andermal lagen die Sessel mit verhakten Beinen auf einem Haufen. Aber der Spuk machte sich auch einen Stock tiefer bemerkbar. Man mußte erleben, daß ein Teller, in den man hatte schöpfen wollen, unter der Hand weggezogen wurde – von
keiner
Hand. Es kam auch vor, daß Mutter im Halbdunkel am Spinett saß, ohne zu spielen; machte man Licht, war der Sessel leer.
    Was die Eltern nicht weniger belastet hatte als der Spuk, war die Scham. Wie konnte man über Unmögliches reden, ohne sich selbst unmöglich zu machen? Waren Fremde zugegen, zeigten sich die Phänomene nie – dabei hätte man Zeugen gut gebrauchen können. Aber man brauchte den Spuk nur zu erwarten, dann kam er nie. Handwerker, welche die Leitungen überprüften, fanden alles in bester Ordnung; Fehlanzeige auch bei Strahlenmessern und Wünschelrutengängern. Gute Freunde gingen, nachdem sie im Hause gewacht hatten, kopfschüttelnd weg und kamen nicht wieder. DasGeschäft gab nach. Was für ein Leben für Kinder, die über ihr Grauen nicht einmal reden durften!
    Ach, sagte Leu, so schlimm war es eigentlich gar nicht gewesen. Die Geister seien ihnen eher frech als böse begegnet. Die hätten sich Dinge erlaubt, die man sich selbst nie getraut hätte, und man habe sie nicht einmal dafür
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