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Saubere Verhältnisse

Saubere Verhältnisse

Titel: Saubere Verhältnisse
Autoren: Ma2
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zusammenstellen lassen. Sie arbeitete mit vielen Seminarleitern und Experten auf allen möglichen Gebieten zusammen – die ganze Spannbreite von Fremdsprachen, Unternehmensethik über buddhistische Konfliktlösung und Chi Gong bis hin zu entspannender Aquarellmalerei. Und manchmal – in letzter Zeit sehr gefragt – auch rein geistliche Themen. Die Schwedische Kirche gehörte zu ihren Partnern.
    Am Anfang nannten sie das Unternehmen »Mehr Zeit«, und sie präsentierten ihre Methode als Möglichkeit, die Zeit effektiver einzusetzen. Später änderten sie den Namen, nachdem sie sich ausführlich mit diversen Experten beraten hatten, in »Deine Zeit«. »Dein« sei persönlicher, eher qualitativ und weniger quantitativ und vulgär als »Mehr«.
    »Niemand will heute mehr haben, mehr ist 20. Jahrhundert, mehr ist stillos«, hatte der junge Trendexperte naserümpfend gesagt. »Heute ist das Kleine, Spezifische, Exklusive angesagt. Nur für dich. Handwerk, Sorgfalt, Qualität. Lieber nur einen selbstgebackenen Kuchen als zehn aus der Fabrik. Lieber ein Paar maßgeschneiderte Unterhosen als einen Anzug aus der Massenproduktion.«
    Sie änderten also den Namen und das Konzept. Ausgehend von der unleugbaren Tatsache, daß man tatsächlich die Zeit hat, die man hat, betrachteten sie diese Zeit aus einer neuen Perspektive und betonten, daß es »Deine eigene Zeit« heißen mußte: die Gottesgabe, Dein Verweilen auf der Erde, Dein Augenblick in der Unendlichkeit. Und deshalb sollst Du und sonst niemand entscheiden, was damit zu geschehen hat. Das Sparschwein mit der Uhr wurde ersetzt durch einen glitzernden Tautropfen, die Kursinhalte wurden weicher, philosophischer.
    Die erste Frage, die Yvonne immer ihren Kunden stellte, lautete: »Was möchtest du mit deiner Zeit machen?« Und sie stellte sich die Frage auch oft selbst, wenn sie sich nach der Morgenmeditation langsam dehnte und vom Kissen auf den ergonomischen Schreibtischstuhl wechselte. Was wollte sie mit diesem Tag machen?
    Normalerweise hatte sie natürlich einige Termine – nicht allzu viele – aber sie hatte immer ein paar freie Stunden. Oft erledigte sie dann etwas – einen Vortrag vorbereiten, ein paar Telefongespräche führen, einige E-Mails schreiben, aber manchmal entschied sie sich auch fürs Sportstudio oder las ein Buch. »Das Wichtigste ist, zu spüren, daß man selbst entscheidet«, sagte sie immer zu ihren Kursteilnehmern und Zuhörern.
    Seit diesem Tag im Mai gab es eine weitere Alternative, wenn sie ihre Entscheidungen traf, aber lange hatte sie sich dagegen entschieden, weil es ihr verrückt oder unsinnig vorkam. In einem fremden Vorort umherzuschlendern, warum sollte sie ihre Zeit darauf verwenden?
    Andererseits – warum nicht?
    Und dann fuhr sie wieder hin. Es war inzwischen Herbst geworden.
    Sie parkte in einer Straße am Rande des Vororts, dicht neben einer Hecke. Sie ging etwa eine Stunde spazieren. Sie umrundete die Häuserblocks in einer labyrinthartigen Schleife und bemühte sich, nicht zwei Mal die gleiche Straße zu gehen. Sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wollte nicht, daß die Leute sich fragten, warum sie auf und ab ging, obwohl sie doch kein Ziel und keinen Grund zu haben schien.
    Es ist zwar nicht verboten, ohne Grund ein Wohngebiet zu besuchen. Aber es ist sehr ungewöhnlich. Nur die Bewohner, ihre Gäste und hin und wieder mal ein Handwerker kommen hierher und suchen schnell das Haus auf, zu dem sie unterwegs sind. Yvonnes planloses Umherspazieren paßte zu einem Sonntagsspaziergang in der Natur oder zum samstäglichen Einkaufsbummel in der Innenstadt, aber hier im Vorort kam es einem unpassend vor, beinahe verboten.
    Das Gefühl, ein Eindringling zu sein, war dieses Mal noch stärker, weil es dunkel war und in den Häusern Licht brannte und man hineinschauen und Bruchstücke des alltäglichen Lebens beobachten konnte: eine Familie am Abendbrottisch, eine konzentrierte Gestalt vor einem Computerbildschirm, eine Frau, die etwas aus einem Schrank holte.
    Sie blieb natürlich nicht wie ein Voyeur stehen. Sie strich langsam vorbei und nahm mit dem Blick soviel wie möglich auf. Für die Menschen drinnen war sie einfach jemand, der vorbeiging. Ein Fremder, der einen Nachbarn besuchte. Oder jemand, der weiter weg im Vorort wohnte und den man deshalb noch nie gesehen hatte. Vielleicht jemand, der neu zugezogen war.
    Wenn sie ihr überhaupt einen Gedanken widmeten. Sie war eine Statistin, die dafür sorgte, daß die Straßen
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