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Saubere Verhältnisse

Saubere Verhältnisse

Titel: Saubere Verhältnisse
Autoren: Ma2
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beschäftigt und sehr zielbewußt aus. Merkwürdigerweise lief er direkt auf Yvonne zu, und sie blieb ganz still stehen, um ihn nicht zu erschrecken. Als er nur einen halben Meter von den schmalen Zehenspitzen ihrer Cerutti-Schuhe entfernt war, blieb er stehen, schnüffelte verwirrt und schien zu zögern. In der Stille konnte sie seine schnellen Atemzüge hören, was sie vor Ehrfurcht erschauern ließ. Einen Moment lang glaubte sie sogar, das Herz des kleinen Tieres schlagen zu hören, aber dann sah sie ein, daß es Einbildung war und sie ihren eigenen Puls hörte, kurz und pochend wie das Herz eines Igels.
    Dann traf der Igel plötzlich eine Entscheidung, änderte seinen Kurs und trottete in eine andere Richtung auf eine Hecke zu, wo er seinen kleinen, rundlichen Körper durch das Zweigwerk drückte. Yvonne blieb lange stehen und hörte, wie er in der Hecke raschelte und schnaubte.
    Aus einer Garageneinfahrt kam eine Katze, strich ihr an den Beinen entlang und ließ sich willig streicheln.
    Zwei dreizehn-, vierzehnjährige Mädchen saßen auf einer Mauer. Sie trugen zu dünne Kleidung für den kühlen Frühlingsabend, die eine strich sich mit den Händen über die nackten Arme. Aber sie redeten über etwas Wichtiges und wollten nicht ins Haus gehen.
    Sie hörte Stimmen aus einem offenen Fenster, irgendwo wurde ein Auto angelassen und fuhr los, und als sie sich dem Wald näherte: ein Chor von Vögeln, die ganz trunken schienen, verrückt vom Frühling.
    Yvonne schaute auf ihre Armbanduhr – sie zeigte jetzt eine komplizierte Zeit an, ohne Viertel –, und wieder einmal dachte sie, daß Jörgen beim Auswählen dieser Uhr tiefsinniger war, als er selbst wußte: Er hatte ihr nicht nur »mehr Zeit« geschenkt, wie er es mit einer scherzhaften Anspielung ausdrückte, sondern er hatte ihr auch zu verstehen gegeben, wie kompliziert und schwer zu fangen die Zeit war; überhaupt nicht so trügerisch selbstverständlich, wie einfachere Zifferblätter einen glauben machen konnten. Aber sie hatte das Gefühl, es sei an der Zeit, zur Tankstelle zurückzugehen, und als sie dort ankam, war das Auto fertig, und sie konnte nach Hause fahren.
    Dann ging das Leben wie gewohnt weiter mit Arbeit und Ehe und Muttersein, ihr Unternehmen entwickelte sich und wuchs, sie wurde immer besser und effektiver und sparte immer mehr Zeit, sowohl für ihre Kunden als auch für sich selbst.
    Aber dieser Abend in dem fremden Vorort war etwas Besonderes gewesen. Wenn sie in einer Besprechung saß, konnten ihr plötzlich die hohen Hecken einfallen, das Geräusch der Bälle auf dem Asphalt, die schnellen Atemzüge des Igels und die blühenden Obstbäume.
    Und sie dachte, daß sie das wieder erleben könnte. Sie brauchte nur wieder dorthin zu fahren, das Auto bei der Tankstelle zu parken und zwischen den Häusern umherzugehen. Würde es wieder so sein? Vermutlich nicht. Solche Augenblicke ließen sich nicht wiederholen.

4
    Wir haben alle eine besondere Begabung. Musikalität, Ballgefühl, ein Händchen für Pferde, einen guten Riecher für Geschäfte.
    Yvonnes Begabung war Effektivität: Dinge mit sowenig Anstrengung wie möglich in so kurzer Zeit wie möglich zu erledigen.
    Sie machte nichts Besonderes, aber was sie machte, machte sie schnell, geschickt und ohne größere Anstrengung: ein Bett beziehen, eine Essenseinladung organisieren, eine Tagesordnung für eine Besprechung aufstellen. Sie schob die unangenehmen Dinge nicht auf, blieb nicht an Details hängen, sie bürdete sich nicht mehr auf, als sie schaffen würde, ließ sich nicht von destruktiver Selbstkritik bremsen. Sie tat einfach, was getan werden mußte, nicht mehr und nicht weniger, und das war – merkwürdigerweise – ziemlich ungewöhnlich, hatte sie festgestellt. Daß es schnell und leicht ging, lag daran, daß sie ihren Körper, ihren Intellekt, ihre Energie und ihre Zeit ausgesprochen ökonomisch einsetzte.
    Es war eine angeborene Begabung, aber wie alle Talente mußte sie trainiert werden. Zunächst trainierte sie, weil sie es mußte, um zu überleben. Dann, um zu sehen, wie gut sie werden konnte. Und schließlich, um sich selbst zu studieren, eine Methode zu erfinden und sie anderen beizubringen.
    Yvonne hatte eine Consultingfirma, die Weiterbildung für Firmen und öffentliche Institutionen organisierte. Sie bot maßgeschneiderte Fortbildungstage und Kurse an, der Kunde konnte sich ganz nach Wunsch ein Buffet von ausgesprochen Nützlichem bis zu leichter Unterhaltung
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