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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago
Autoren: Hans Aebli
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Hang eines Seitentales abwärts, auf einem steinigem Geißenpfad, zwischen hohen Sträuchern und schattigen Laubbäumen. Unten kommen wir zu einer alten Mühle, »Piquemeule«, bei der ein verwittertes Steinkreuz steht: ein erstes handfestes Zeichen, daß wir auf dem Pilgerweg gehen. Wie wir aus dem Bachtobel auftauchen, erkennen wir die ersten Häuser von Saint-Privat und, nach einer Wegbiegung, das mächtige Schloß über dem Städtchen.
Es ist etwa zwei Uhr. Wir sind gute fünf Stunden gewandert und haben uns zwischendurch auch ausgeruht, eine bequeme erste Etappe. Es gibt am Ort einen Gasthof, dessen Küche gelobt wird, und eine wohlfeile Pilgerunterkunft. Wir haben uns noch in Le Puy telephonisch im Gasthof angemeldet, die Nummer stand im Hotelverzeichnis des Départementes, das man im »Syndicat d’Initiative« jeder größeren französischen Stadt erhält.
Wir melden uns an der Theke, ein wenig unsicher, ob man uns Rucksackträger auch aufnehme. Aber die Wirtin bleibt freundlich. Sie hat Platz für uns, wenn auch die rechten Kunden hier eigentlich die Feriengäste und die Handelsreisenden sind.
Wie wir später am Tag in unserem Wanderkostüm in den französisch-bürgerlichen Eßsaal mit seinen hochlehnigen Stühlen und glänzenden Gedecken treten, scheint unser Status auch den jungen Kellner skeptisch zu stimmen; und da er selbst eben erst die Bubenhosen abgelegt und den schwarzen Kellneranzug angezogen hat, stellen sich hier wohl sogar zwei Identitätsprobleme.
Im Verlaufe des Essens lösen sich jedoch diese Knoten. Der junge Mann macht seine Sache gut, und was er uns bringt, entspricht dem guten Ruf des Hauses. Er selbst merkt, das wir ihn gut mögen und seine Rolle respektieren, und er scheint sich davon zu überzeugen, daß auch Leute, die zu Fuß und mit Rucksäcken ankommen, rechte Gäste sein können.
Auch wir müssen unsere neue Identität erst finden. Aber dafür haben wir viel Zeit. Es ist ein guter erster Tag gewesen.
     

Hochebene und erster Tiefpunkt
2. Tag: Von Saint-Privat-d‘Allier nach Saugues
 
Heute werden wir das Tal des Allier durchqueren, jenen 400 Meter tiefen Graben, der die Hochebene des Velay vom Plateau von Gévaudan trennt. Das bedeutet gleichsam eine umgekehrte Bergtour: zuerst der Abstieg, dann der Aufstieg.
Vorerst wandern wir am rechten Abhang des Seitentales, in dem Saint-Privat liegt, auswärts. Vor uns, am Horizont, hart am Abbruch ins Haupttal, steht eine Kapelle. Sie ist St. Jakob, dem Heiligen der Pilger, geweiht. Von ihm mögen sie sich Schutz beim steilen Abstieg erhofft haben. Das Kirchlein steht im warmen Licht der Morgensonne. Wir gehen noch im Schatten und frösteln. Doch bald erreicht die Sonne auch uns und wärmt uns den Rücken. Lange Ruten des Fingerhuts hängen in den Weg. Das leuchtende Purpur seiner Blüten hebt sich vom Schatten ab. Unser Lebensgefühl ist leicht und zuversichtlich.
In einer guten halben Stunde sind wir in Rochegude, dem kleinen Dorf zu Füßen der Kapelle. Rochegude, das ist »Scharfer Fels«. Es war einmal ein befestigtes Felsennest, mit Burg und Mauer, aber das ist vergangene Größe. Jedes zweite Haus steht heute verlassen, viele Dächer sind eingestürzt. Von der einstigen Burg bleibt nur noch der Stummel eines Rundturmes.
Bei einem der Häuser verbellt uns ein Hund. Ein alter Mann ruft ihn zurück. Er ist dabei, im ummauerten Garten neben dem Haus Grünzeug für seine Tiere zu holen. Wir grüßen ihn über die Mauer, erleichtert, daß der Hund von uns abgelassen hat, und wechseln ein paar Worte. Gerne hätten wir etwas über die Geschichte des Ortes gewußt. Doch der Alte versteht uns schlecht. Ist er schwerhörig, oder ist seine Sprache nicht die unsrige? Man spürt: Er ist müde. Die Jungen sind hier oben weggezogen, in die Stadt, wo sie besseren Verdienst und ein moderneres Leben zu finden meinen. Herbst eines Dorfes.
Um dem Gespräch eine positive Wendung zu geben, frage ich, ob die Kapelle offen sei. Nein, das nicht, aber man könne zu ihr aufsteigen, die Sicht ins Tal sei gut. Wir verabschieden uns, ein wenig verlegen, daß der Kontakt nicht zustande kommen wollte. Im Gehen blicke ich noch einmal zurück. Ja, dort hinauf, bestätigt er mit einem freundlichen Handzeichen.
Die roten Steine der Kapelle sind erwärmt vom Morgenlicht. In den beiden Bogen der Glockenmauer hängen zwei Glocken, eine größere und eine kleinere. Über dem Balken, der sie trägt, zeichnet sich ob einer jeden das profilierte Gegengewicht ab. Wie muß
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