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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago
Autoren: Hans Aebli
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Granitplatten sind vor Zeiten als Brücken über sie gelegt worden. Zahllose Libellen mit blaugrünen, seidigen Flügeln schweben über dem Wasser, nicht regungslos wie ihre größeren Schwestern, sondern mit weichen, flatternden Bewegungen. Sie ruhen sich an Halmen aus, die über dem Wasser hängen. Darunter ihr Spiegelbild. Die Stille des Mittags umgibt uns.
Dann führt ein Waldsträßchen entschieden abwärts. Wir kommen durch das Dorf Le Rouget, nochmals über einen auslaufenden Höhenzug und an seinem Ende schließlich, in der Sonne des späten Nachmittags, zu den ersten Häusern von Saint-Alban. Zuerst sind es die kürzlich erbauten, modernen, mit dem Gartengrill im gemähten Rasen, dann kommen die älteren, direkt an der abfallenden Straße liegenden. Hier sitzen Frauen im Schatten beieinander, stricken und reden. Sie helfen uns bereitwillig weiter zum »Hotel du Centre«, in dem wir nächtigen.
     

Erste Bekanntschaft: Stéphane und Béatrice
4. Tag: Von Saint-Alban-sur-Limagnole nach Aumont-Aubrac
 
Unsere heutige Etappe erstreckt sich nur über 15 Kilometer, ein leichtes Pensum. Im Hotel gibt es zwar um acht Uhr noch kein Frühstück, aber eine Bäckersfrau hat ihren Laden schon aufgetan und verkauft uns ihre frischen Butterkipfel, und etwas weiter vorn, im Café an der Ecke, gibt es die großen Tassen mit dem französischen Milchkaffee. Die Stammgäste allerdings, die vor der Arbeit an der Bar ihren Schnaps nehmen, ältere Männer mit roten Gesichtern und einigem Übergewicht, betrachten uns mit Mißtrauen. Sind wir rechte Pilger oder linke Marschierer? Wir spüren, ob es Blicke der Sympathie oder der Distanzierung sind, die uns begleiten.
Dann in der Morgensonne zum Städtchen hinaus, über eine weite Ebene und über den Ausläufer eines Bergzuges ins Tal der Limagnole. Oben steht ein hohes, schlankes Pilgerkreuz auf einem Granitsockel. Auf der einen Seite erkennen wir schwach einen Christus, auf der anderen Maria. Darüber ein wolkenloser Himmel.
Nach dem neuerlichen Aufstieg durch den Föhrenwald geht es bequem über eine Ebene mit wenig Getreidefeldern und vielen Weiden. Unsere Schatten sind noch lang, der körnige Granitsand knirscht mit jedem Schritt unter den Füßen.
Worüber reden wir in den langen Stunden des gemeinsamen Wanderns? Nicht viel, fast nur über das Naheliegende:
- Schau, diese Glockenblume. Die Art kenne ich nicht. Hast Du sie schon einmal gesehen? Bei uns sind sie weniger tief eingeschnitten. — Spürst Du die Achseln auch? Wie gut, daß wir nur sechs Kilo im Rucksack haben. — Heute gibt es keine nassen Schuhe vom Tau, das Sträßchen ist gut. — Wart nur, Du weißt nicht, was noch kommt. Die Wiesen sind immer noch naß...
Die Schweiz liegt weit hinter uns, auch der Beruf und seine Pflichten. Aber auch Santiago ist noch nicht in unserem Bewußtsein, es liegt zu weit vor uns. Wir befinden uns in einer Art Zwischenzustand, weit vom Ausgangspunkt und noch fern vom Ziel. Es ist der Zustand des Unterwegs-Seins.
Zum ersten Mal entdecken wir vor uns zwei andere Pilger, zwei Frauen. Sie sind sportlich gekleidet, aber sie gehen, anders als wir, an langen Stäben. Wir holen sie ein und knüpfen ein Gespräch an. Es sind Französinnen. Die ältere der beiden stammt aus der Region von Paris, die jüngere aus Marseille. Sie wollen in diesen Ferien bis Moissac gehen, weiter reicht es nicht. Ich wage die Frage nach den Motiven der Wanderung.
Die junge Frau zögert, sie schaut mich ihrerseits forschend an. Schließlich sagt sie: Sich selber finden... en face de la nature... et des cieux... »Vor der Natur«, das ist der säkulare Teil der Antwort, »vor den Himmeln«: die Mehrzahl mindert das Gewicht der christlichen Antwort, welche die Einzahl verlangt hätte. Wir verstehen uns, ich hätte auch so geantwortet.
Inzwischen sind wir in ein kleines Tal abgestiegen und haben dann die Höhe wiedergewonnen. Um die Mittagszeit kommen wir nach Aumont d’Aubrac hinunter, einem kleinen Städtchen an einer verschlafenen Bahnlinie. Unser Hotel hat in der Region einen guten Ruf. Schon in Saugues hatte uns ein Tuchhändler vor dem Laden erklärt, daß wir unbedingt im Hotel de la Gare absteigen müßten, nirgends esse man so gut wie dort.

 
Wir folgen dem Rat, obwohl wir von der Halle aus einen pompös-bürgerlichen Speisesaal erkennen, der unserem Lebensgefühl kaum entspricht. Unser erster Eindruck bestätigt sich. Die pseudo-antike Innenarchitektur ist überladen. Das Essen ist zwar gut, aber von den
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