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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago
Autoren: Hans Aebli
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bedeckt, und ein leichter Nebel liegt in der Senke von Saugues. Wir haben das schlafende Städtchen schon hinter uns. Heute werden wir den großen Teil des Plateaus von Gévaudan durchqueren. Nach dem Wanderführer mißt die Etappe mehr als 30 Kilometer, eine beträchtliche Strecke. Vorher gibt es keine Unterkunft. Wir gedenken, einige Bogen des bezeichneten Weges abzuschneiden, um die Anstrengung in Grenzen zu halten.
Der Weg führt durch Wiesen sanft aufwärts. Es ist ganz still, sogar die Laute der Vögel sind verhalten. Im dämmrigen Föhrenwald ziehen die Nebel durch die Stämme. Der Waldweg ist feucht und elastisch. Wie sich der Morgen ankündigt, sind wir in einem einsamen Wiesental. Ein Bach zieht seine Schlingen durch den Talgrund, einige Pferde und Kühe weiden am Wasser. Sie haben die Nacht hier draußen verbracht.
Wir sind noch keinem einzigen Menschen begegnet, nähern uns jetzt aber einem größeren Dorf. Immer noch niemand. Wieder die ernsten Häuser mit ihren mächtigen granitenen Ecksteinen, für die Ewigkeit gebaut, in der Mitte des Dorfes steht ein hoher Rundturm. Er soll im 11. Jahrhundert als Teil einer Burg errichtet worden sein. Nach den letzten Häusern umgibt uns wieder Stille. Reife Felder, Föhrenwälder.
Wir müssen über einige Kilometer auf der schmalen Asphaltstraße gehen. In großen Abständen tauchen bescheidene Lieferwagen auf: der fahrende Bäcker, der Metzger, der Früchtehändler.
Die Sonne steht nun schon auf halber Höhe, und es ist wärmer geworden. Wir folgen lange einem Hochtal mit Wiesen und Weiden. Nach einiger Zeit entdecken wir auf der anderen Seite ein freundliches Dorf mit einem mädchenhaft klingenden Namen: Chanaleille. Wir wagen den Umweg dorthin und bereuen es nicht. Junge Leute führen da ein freundliches Café. Ihr Kaffee ist gut, und niemand nimmt uns übel, daß wir unser Brot aus dem Rucksack holen.
Nach der Pause machen wir einen Rundgang durchs Dorf und zu seiner Kirche. Auf den Erdstraßen scharren Hühner, Bauersfrauen in Kopftüchern und Stiefeln gehen ihrer Arbeit nach. Aber was für eine Kirche! Ihre hohe Glockenmauer weckt in uns Vorahnungen des Südens. Es sind sechs Glocken, vier große in der unteren Reihe, zwei kleine darüber, daneben eine alte Edelkastanie. Das Innere der romanischen Kirche ist unverputzt, mit einem schweren Tonnengewölbe, der Altar modern, ohne Flitter. Wir fragen nach dem Pfarrer. Er ist jung und wohnt nicht im Dorf. Er muß neun Kirchen bedienen. Das Dorf hat nur noch 60 Einwohner.
Dann steigt das Tal allmählich an. Wir versuchen eine Abkürzung, die nicht im Wanderführer verzeichnet ist, folgen einem Waldrand und stoßen auf einen Bach, der in unser Tal mündet. Er führt wenig Wasser, aber es liegen große runde Steinbrocken in seinem Bett. Wie Verena vom einen zum anderen springt, gleitet sie aus und stürzt zwischen die Steine. Ich erschrecke, komme zurück, helfe ihr auf. Sie zittert ein wenig und blutet an der Hand. Sonst ist ihr zum Glück nichts geschehen.
- Die Apotheke ist in der Außentasche, Hans, kannst mir ein Pflaster geben.
- Setz dich nur auf diesen Stein, ich leg’ dir einen Verband an.

Verena beruhigt sich rasch. Der Vorfall gibt uns immerhin zu denken: es braucht wenig, um unser ganzes Vorhaben zu gefährden.
Von den Abkürzungen haben wir im Moment genug. Wir sind froh, die Straße wiedergewonnen zu haben, und folgen ihr durch einen Bergwald aufwärts. Nach etwa vier Kilometern erreichen wir den Übergang, le Col de l’Hospitalet. Hier soll im Mittelalter ein kleines Pilgerhospiz gestanden haben. Es ist keine Spur von ihm geblieben.
Etwas weiter vorn kommen wir zur Kapelle von Saint Roch.
Sie liegt in lieblichen Alpweiden an der Paßstraße und ist ordentlich restauriert. In ihrer Nähe sprudelt ein munterer Brunnen in einen kleinen Holztrog. Seine Quelle kannten schon die Pilger des Mittelalters.
Wir halten im Schatten einer Alphütte Mittagsrast und blicken nach Südwesten: Hügelzug hinter Hügelzug, am Ende nur noch die Bläue des Himmels. Wir können uns nicht vorstellen, wie wir diese Distanzen bewältigen werden. Aber müssen wir es uns denn vorstellen? Was bringt es, daß wir die künftigen Aufgaben ständig vor Augen halten? Es genügt, die unmittelbar anstehenden zu lösen. Vorweg das Notwendige tun. Es richtig tun. Das Übrige getrost dem morgigen Tag überlassen. Unsere neue Lebensform?
Es geht jetzt abwärts, in eine feuchte Senke hinein. Ein Bach verteilt sich in mehrere Arme, mächtige
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