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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago
Autoren: Hans Aebli
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ihr Klang in den Grund dieses Tales sinken, wenn sie geläutet werden. Drunten im Schatten liegt Monistrol, »Klösterchen«. Es ist am Übergang über den Allier erbaut worden. Jenseits dehnt sich eine neue Hochebene, ähnlich der, die wir gestern durchwandert haben.

Wir fragen uns, wie wir da hinunterkommen. Das Wegzeichen weist nach links in die Tiefe, über eine felsige Kante, vorbei an Föhren, Ginster und Wachholder. Doch der Abstieg ist einfacher, als wir gedacht haben. In der Mitte kommen wir auf eine einsame Terrasse mit einer Gruppe von alten Häusern, »Pratclaux«, »versteckte Weide«. Dann noch einmal steil hinunter, und plötzlich stehen wir auf der Straße, die sich neben dem Fluß durch das Tal windet.
Häuser säumen die Straße, dazu Betonwände einer industriellen Anlage, ein Kraftwerk. Schwere Lastwagen donnern an uns vorbei: Kein Ort für Wanderer. Bekommen wir hier wenigstens das Frühstück, das wir im Hotel wegen unseres frühen Abmarsches verpaßt haben? Es hat in Monistrol einmal ein Hotel mit Restaurant gegeben, aber es ist jetzt geschlossen und zu verkaufen. Vor einem kleinen Café wischt indessen die Wirtin den Gehsteig, eine dürre, grauhaarige Frau. Sie verspricht, uns ein Frühstück zu bereiten. Aber unser Optimismus wird heute auf eine harte Probe gestellt: der Kaffee ist grau und das Brot trocken. Dafür fordert sie das Doppelte des üblichen Preises. Wir protestieren nicht, denken nur: Hinaus aus diesem ungastlichen Graben; das Dorf verdient seinen schönen Namen »Klösterchen« nicht. Oben, auf der Hochebene, wird die Welt heller und freundlicher sein.
Also aufwärts. Der alte Weg steigt steil an, unter Granitfelsen und Basaltorgeln. Stellenweise gehen wir auf dem nackten Fels, nur ein wenig grober Sand, Granitkörner, vermischt mit Glimmer, deckt ihn. Wir tauchen in einen trockenen Wald mit Föhren und Buchen und kräftigem Unterholz von Farn und Wacholder. Auch auf dieser Seite unterbricht eine Terrasse mit Wiesen und weidenden Kühen den Aufstieg. Wir schöpfen Atem. Dann noch einmal 200 Meter hinauf, und jetzt öffnet sich vor uns die sanft bewegte Hochebene von Gévaudan. Hinter uns, jenseits des Tales und nun schon weit entfernt, erkennen wir die Jakobskapelle, dahinter die Vulkankegel des Velay.
Das Sträßchen zieht sich im weiten Bogen durch die Ebene, dann und wann unterbrochen von einem Föhrenwäldchen. Dazwischen liegen Getreidefelder, bereit, abgeerntet zu werden. Großartige Mauern aus exakt gefügten Granitblöcken säumen zeitweise den Weg. Wer waren die Männer, welche die Zeit und Kraft hatten, sie zu bauen?
Die Dörfer, die wir hier oben antreffen, wirken ernst. Sie sind aus grauem Naturstein gebaut und großzügig angeordnet. Hier ist viel Raum, fast mehr, als die Menschen heute noch zu füllen vermögen. Die Häuser tragen Jahreszahlen aus dem letzten Jahrhundert, sorgfältig im Relief über der Eingangstüre herausgemeißelt. Einige stehen leer.
Unser heutiges Marschpensum ist leicht. Die Überquerung des Grabens hat uns weniger Kraft gekostet, als das Kartenbild befürchten ließ. Anderthalb Stunden, nachdem wir ihn hinter uns haben, blicken wir schon in die Senke von Saugues, unserem heutigen Ziel. Es ist eine weite Mulde mit Weiden und Hecken und einigen Getreidefeldern, auf einer Höhe von 900 bis 1000 Metern. Wer schon im Jura gewandert ist, fühlt sich hier fast zu Hause.
Um die Mittagszeit sind wir am Ziel. Saugues ist ein kleines Städtchen — eigentlich ein großes Dorf — in der Einsamkeit des Hochlandes von Gévaudan. Am Rande stehen einige Wöhnblöcke, und über die alte Stadt ragt ein breiter, viereckiger Turm mit Zinnen. Sie nennen ihn den Turm der Engländer. Er wurde in der Zeit des hundertjährigen Krieges erbaut, als die Engländer die Grenze ihres Landes noch mitten durch Frankreich zu ziehen versuchten.
Das Gasthaus, in dem wir uns von St.-Privat aus angemeldet haben, ist ein kleiner Familienbetrieb. Die Böden knarren, die Messingknäufe der Türschlösser wackeln, und man sinkt tief in die Betten ein. Die Wirtsleute begegnen uns mit einiger Skepsis. Sie scheinen sich zu fragen, ob wir Pilger oder weltliche »Marschierer« sind, ln der Tat, was sind wir? In den kommenden Tagen und Wochen werden wir darüber nachdenken. Jedenfalls sind wir auch heute fröhliche Wanderer gewesen, obwohl uns einiges Gesehene nachdenklich gelassen hat.
     

Chanaleille, du Schöne
3. Tag: Von Saugues nach Saint-Alban-sur-Limagnole
 
Der Himmel ist
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