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Salto mortale

Salto mortale

Titel: Salto mortale
Autoren: Jakob Bosshart
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aufreibende Wan-
    derleben von Stadt zu Stadt, aus einem Land in
    ein anderes, von Aufregung zu Aufregung.
    Die Zeitung hatte von den fratelli Zobelli
    ein großes Wesen gemacht, alles war auf sie
    gespannt, und der Saal gedrängt voll.
    Als Heinz einen Blick in den Raum warf, in
    den gähnenden Tierrachen, der die Bühne und
    alles, was sich darauf befand, zu verschlingen
    drohte, wuchs in ihm das beklemmende Ge-
    fühl, das ihn beim Eintritt in das Haus wieder
    überfallen hatte, und wie er auf der dachförmi-
    gen Treppe emporstieg, merkte er, daß er weni-
    ger flink und sicher war als sonst. Er nahm sich
    zusammen, er wollte, er mußte ja!
    Aber es wurde ihm alles sauer an diesem
    Abend; als er Franz auf dem Kopfe trug, war
    ihm, der Nacken werde ihm widerspenstig, es
    stecke ein böser Willen, eine Ungeduld, ein
    Ungehorsam drin, und die Treppe erschien
    ihm von unendlicher Länge und Höhe.
    Jetzt galt es, das Wagnis auf der Drehscheibe
    zu bestehen, vor dem er seit gestern ein unsäg-
    liches Grauen empfand. Er warf dem Direktor
    einen stehenden Blick zu; der aber verstand
    ihn nicht und raunte ihm zu: „Wartest du noch
    auf eine Semmel? Auf und dran.“
    Heinz fühlte, daß er widerstehen mußte,
    daß er an diesem Tage das Theater nicht hätte
    betreten sollen, und er sagte mit bebenden
    Lippen.
    „Ich kann nicht mehr!“
    „Geh, man kann immer, wenn man muß!“
    Heinz schüttelte den Kopf und schaute nach
    dem Ausgang, Fluchtgedanken im Sinn. Des
    Direktors Augen flackerten. „Gewahr’ dich!“
    zürnte er.
    Es war im Saal ganz still geworden, Heinz
    fühlte, daß aller Augen, auch die der Mut-
    ter, auf ihn geheftet waren, und er zitterte vor
    Aufregung und Angst. „Ich will nicht mehr“,
    sagte er; aber Signor Ercole verstand es nicht
    so: „Geh, du Schlingel, oder ich hau’ dir eine
    runter!“ zischte er ihn an. Und nun fügte sich
    Heinz wie ein Verzweifelter, der sich sagt:
    „Meinetwegen, wenn ihr es haben wollt!“
    Er faßte die Scheibe und stemmte sich dar-
    auf empor. Wie ihm aber Franz die Hände auf
    die Fußsohlen stützte und sein ganzes Gewicht
    auf ihn ablud, knickte er in den Ellbogen leicht
    zusammen, er wußte, daß er ihn nicht würde
    halten können, und es kam wie eine dumpfe
    Neugier über ihn, wie das Entsetzliche nun ge-
    schehen möchte.
    Da hörte er Franz über sich flüstern: „Halt
    fest, Heinz.“ Das rüttelte ihn etwas auf und er
    raffte das bißchen Willen, das ihm geblieben
    war, zusammen. Er wollte das Unmögliche ver-
    suchen, er klemmte die Augen zu, er biß die
    Zähne zusammen, um jedes Tor, aus dem die
    Kraft entweichen konnte, zu schließen. Jeder
    Muskel, jede Faser zitterte an ihm und war
    dem Zerreißen nahe, die Kehle schnürte sich
    ihm zu und der Schweiß trat aus allen Poren,
    er meinte, alles Blut sause ihm wie ein Wild-
    bach durch den Kopf und zersprenge ihn.
    Die Scheibe fing endlich sich zu drehen an,
    viel langsamer als sonst, wie es ihm schien.
    Gerne hätte er dem Direktor zugerufen, sich zu
    beeilen, oder dem Bruder, abzuspringen, aber
    er vermochte es nicht, er fühlte, daß, sobald
    er sprach, das Unglück da war. Das ging eine
    Ewigkeit lang, und immer heftiger bebten ihm
    die Arme und immer ungeduldiger zuckte es in
    den Muskeln. Nun mußte etwas springen oder
    reißen. Wenn Franz seinen Salto nun nicht
    machte, war er verloren.
    Die Zuschauer wurden seines Zitterns, das
    sich bis hinauf in die Zehenspitzen des Klei-
    nen fortsetzte, gewahr. Die Gewißheit eines
    Unglückes malte sich auf allen Gesichtern.
    Auch der Direktor sah, daß die Lage
    schlimm war, aber er sagte sich: „Er hat gestern
    auch ausgehalten.“ Doch fing er an, die Kurbel
    schneller zu drehen als sonst und raunte Heinz
    zornig zu: „Donnerwetter, nicht zittern!“
    Die heftigen Worte schlugen wie Keulen-
    schläge an das Ohr des Knaben; er zuckte un-
    ter der Wirkung des nochmals aufgeschreckten
    Willens zusammen, er öffnete die Augen, und
    seine Blicke fielen auf die Mutter, die am glei-
    chen Platze saß wie tags zuvor.
    Er suchte Stärkung in ihren Blicken, sie hatte
    ihm ja versprochen, ihn beständig anzusehen.
    Aber ihre Angstaugen waren heiß nach oben
    gerichtet und verschlangen ihren Jüngsten.
    Nun war es aus, es ging ein Stoß durch den
    Leib des Knaben, ein Zucken wie das einer ab-
    schnellenden Sehne. Ein Stöhnen preßte sich
    durch seine zusammengebissenen Zähne.
    In der vordersten Bankreihe gellte ein
    markerschütternder Schrei, ihm
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