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Salto mortale

Salto mortale

Titel: Salto mortale
Autoren: Jakob Bosshart
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halb
    ohnmächtig über seiner Drehscheibe zusam-
    men und kollerte zu Boden. Niemand beach-
    tete es als Signor Ercole, der ihn rasch und un-
    auffällig von der Bühne brachte und draußen
    mit rauhen Worten schalt, zum erstenmal seit
    ihrer Wanderzeit, und in Gegenwart der klei-
    nen Seiltänzerin, die verschmitzt lächelte und
    sich auf den Fersen höhnisch herumdrehte.
    Auf dem Heimwege und zu Hause sprach
    Heinz kein Wort, man begehrte auch keines
    von ihm. Signor Ercole zürnte ihm, denn es war
    ihm nicht entgangen, in welche Gefahr er den
    Kleinen gebracht hatte. Die Mutter aber hatte
    ihren Wagehals anzusehen und zu bewundern,
    mit ihm zu plaudern und zu kosen. Seit ihr
    Herz für ihn in tausend Ängsten gehämmert
    und gezittert hatte, war es durch neue Bande
    an ihn geschmiedet.
    Heinz, der sonst eifersüchtig jedes Liebes-
    zeichen der Mutter erlauert und gewogen hatte,
    achtete jetzt nicht darauf. Er war betäubt, er
    hörte in einem fort das ruchlose Wort im Ohr
    und fühlte, daß es ihm die Kraft zerfraß und
    einem Unglück rief.
    In der Kammer, in ihrem alten Bette, schlug
    er die Arme um den Bruder, fest, wie Wurzeln
    die Erde umklammern, küßte ihn, flüsterte
    ihm zu, wie lieb er ihn habe, und dabei quollen
    ihm die Tränen aus den Augen und benetzten
    die Wangen des Kleinen. Der begriff nicht und
    wollte die Mutter rufen; Heinz aber bat ihn,
    sich still zu halten, worauf Franz bald in des
    Bruders Armen einschlummerte.
    Heinz fand den Schlaf erst gegen Morgen,
    und als er endlich über ihn kam, war es eine
    schwere, den Atem beklemmende Decke, ein
    Balken auf der Brust des Gequälten. Schreck-
    hafte Traumbilder ängstigten ihn: er sah den
    Sarg, den Meister Wäspi am Morgen zusam-
    mengetrieben hatte, und drin lag bald Franz,
    bald er; war aber die Reihe an ihm, so wurde
    der Schrein zugenagelt, und der Versargte
    konnte sich in Erstickungsnöten nicht rühren,
    vermochte nicht zu schreien, und seine Au-
    gen sahen nichts als die grausige Nacht, die
    den Sarg wie schwarze Wolle füllte. Mit einem
    Schrei fuhr er endlich in die Höhe. Er war in
    Schweiß gebadet. Der Morgen schielte bleich
    in die Dachkammer. Franz aber zog noch ru-
    hig den Atem ein, und seine Wangen waren rot
    und frisch in der Gesundheit des Schlafes.
    Heinz ging den ganzen Tag verstört umher,
    sprach nicht und aß nichts. Man drang in ihn,
    er wich lange aus. Endlich stieß er es hervor:
    „Ich spiele heute abend nicht, ich spiele über-
    haupt nicht mehr!“
    „Was ist in dich gefahren, du Eigensinn?“
    fuhr ihn Signor Ercole an.
    Man wollte den Grund seines Verhaltens
    wissen, er ließ sich kein Geständnis abringen.
    Wie hätte er das entsetzliche Wort gebeichtet,
    das ihn auf der Drehscheibe überfallen?
    Sein hartnäckiges Weigern brachte die
    Dachwohnung in große Bestürzung. Signor
    Ercole sah sein Geschäft gefährdet, die Mutter
    das Bächlein ihres Wohlstandes vertrocknen.
    Sie war gestern bei der Aufführung bestän-
    dig von der Lust in den Schmerz und vom
    Schmerz wieder in die Lust geworfen worden.
    Jetzt wand sie sich in einem ähnlichen Zwie-
    spalt: so lange ihre Knaben bei dem gefährli-
    chen Gewerbe waren, mußte sie nun täglich
    zittern und bangen, das wußte sie; aber wenn
    sie nichts mehr verdienten, was dann? Sie sah
    ihr früheres Leben wieder vor sich, das Le-
    ben, das ein Sterben war, ein ewiges Bücken in
    Sorge und Niedrigkeit und Not. Sie hatte sich
    so sehr an ihren Überfluß gewöhnt, wie konnte
    sie die alte Armseligkeit wieder ertragen? Und
    dann sollte sie ja von nun an als Frau Direktor
    die Knaben begleiten, konnte also täglich ih-
    ren Ruhm sehen, allezeit über sie wachen! Es
    wäre nun schwer, all den Zukunftsträumen zu
    entsagen. Und doch, wenn es ein Unglück gäbe,
    wenn Franz fiele …?
    Heinz hielt bis eine Stunde vor Beginn der
    Vorstellung aus. Die Mutter saß in einer Ecke,
    jeden der Knaben mit einem Arm umfassend.
    Signor Ercole ging unruhig grübelnd in der
    Stube auf und ab, seine Backenknochen stachen
    noch mehr als sonst hervor, sie glichen zwei vor
    den Kopf gehaltenen Fäusten, die bereit waren,
    loszuschlagen. Er sah ungemütlich aus.
    Nun trat er für einen Augenblick in sein
    Zimmer, um bald wieder mit einem Haufen
    Zeitungen zum Vorschein zu kommen, warf
    den papiernen Plunder auf den Tisch, hieß
    Heinz näher treten und las ihm nun Berichte
    über ihre Vorstellungen vor, wobei er die Sätze
    hervorhob, in denen das Wort Arrigo in ge-
    sperrten Lettern zu
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