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Salto mortale

Salto mortale

Titel: Salto mortale
Autoren: Jakob Bosshart
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Fehler
    eines andern zwischen zwei Güterwagen mit
    dem Leben bezahlt. Die Gesellschaft bot der
    Witwe eine kleine Entschädigung an, ein Al-
    mosen, denn sie glaubte beweisen zu können,
    daß Zöbeli sein Unglück selbst verschuldet
    und ihr zudem großen Materialschaden zuge-
    fügt habe.
    Der Witwe, die vor einem unsichern Pro-
    zeß zurückschreckte und niemand zum Raten
    an der Seite hatte, blieb nichts übrig, als die
    tausend Franken, die man ihr anbot, hinzu-
    nehmen; aber wie sie dem rauhen Beamten die
    Hand hinstreckte, kam sie sich wie eine gede-
    mütigte Bettlerin vor, zum erstenmal in ihrem
    Leben, und sie sank schluchzend auf einen
    Bürostuhl nieder. Sie hatte Groll und Abscheu
    gegen das Geld, ihr war, das Blut ihres Mannes
    klebe daran, und sie war froh, als sie es in einer
    Sparkasse untergebracht hatte; dort mochte es
    liegen und wachsen, sie würde nie mehr daran
    rühren. Sie würde auch niemals daran sinnen,
    wenn ihre zwei Buben nicht wären, wenn es sie
    nicht manchmal schmerzte, sie in so armseli-
    gen zusammengeflickten Kleidern und vor so
    magern Schüsseln zu sehen. Für sie sollte das
    Geld sich mehren, um ihnen einmal auf einen
    grünen Zweig zu helfen.
    Ja, die Buben! Wie hätte sie alles ohne sie
    getragen! Als man ihr die Nachricht von dem
    großen Unglück brachte, hätte sie sich durch
    das Fenster auf das Pflaster gestürzt, hätte ihr
    nicht gerade der jüngste an der Brust gelegen,
    um sich zu stillen. Und so war es geblieben: sie
    fand die Kraft zum Leben und überwand die
    Unlust zur Arbeit nur durch sie. An ihr selber
    lag ihr nichts, ihretwegen mochte alles gehen,
    wie es wollte; für die Kleinen aber mußte ge-
    opfert werden.
    Der ältere der Knaben war nun fünf, der jün-
    gere drei Jahre alt, Heinrich und Franz hießen
    sie. Wenn die Mutter am Morgen ihrem Tage-
    werk nachging, sagte sie zum ‚Großen‘: „Gib
    acht, daß dem Franzli nichts geschieht! Du
    mußt jetzt sein Vater sein, weil der andere im
    Kirchgrab liegt.“
    Und Heinz erwiderte: „Ja, ja, geh nur,
    Müeti!“ Er kam sich ganz würdevoll und wich-
    tig vor als Vater seines Knirpses von Bruder
    und ging mit ihm um wie mit dünnem Glas.
    Waren die beiden nicht zu großen Taten
    aufgelegt, so verweilten sie sich in dem Dach-
    stübchen, das eng und arm, aber, dank dem
    Sonnenlicht, das ungehemmt vom Himmel her-
    einflutete, doch freundlich war. Da setzte sich
    der Kleine auf den Schemel, der Große spannte
    sich davor und hü! hü! ging es von einer Ecke
    zur andern, daß der Fußboden kreischte. Oder
    dann stellten sie sich ans Fenster und guckten
    hinab und hinüber nach den vielen mannigfal-
    tig gestalteten Dächern; nach den Spierschwal-
    ben, die vor Lust schreiend um die Hausecken
    und Giebel sausten; nach den Katzen, die über
    die Ziegel schlichen, sich in der Sonne dehn-
    ten und streckten, oder sich nach den Spatzen
    duckten, die unartig in den Dachrinnen sich
    rauften; nach den Kaminen und dem Rauch,
    der sich daraus emporschraubte, aus jedem in
    anderer Gestalt, keinen Tag wie den andern;
    und dann fragten sich die Knaben: „Was wird
    wohl dort gekocht und gesotten? Und dort?
    Und dort? Und wer steht unten am Herd und
    bläst ins Feuer? und wer streut Mehl in die
    Pfanne und rührt es mit dem Löffel um, bis es
    aufgeht wie Milch?…“
    Erwachte die Unternehmungslust in ihnen,
    so nahmen sie sich bei der Hand und stiegen
    die düstern unendlichen Treppen mit dem kleb-
    rigen Geländer hinab und hinaus in den ‚Sack‘.
    Der ‚Sack‘ war eine Ausstülpung der Schlauch-
    gasse, ein Arm, den sie nach dem verlorenen
    Miethause ausstreckte, in dessen Dachwoh-
    nung Frau Seline Zöbeli mit ihren Kindern Un-
    terkunft gefunden hatte.
    Der ‚Sack‘ war nicht drei Schritt breit und
    kaum einen Steinwurf lang, bildete aber für die
    Zöbelibuben nichtsdestoweniger eine kleine
    Welt. Er war vor allem ihr Tummelplatz. Das
    schlechte Pflaster und eine Tischlerei lieferten
    ihnen das Spielzeug. Auch Kameraden fanden
    sie da, die drei Kinder des Schreinermeisters,
    die ihnen die Werkstatt des Vaters, einen riesi-
    gen, nie ganz zu ergründenden Guckkasten, er-
    schlossen. Stundenlang standen sie bis zu den
    Knien in den nach Harz und Leim duftenden
    Spänen und sahen den Gesellen zu, die den Ho-
    bel ruckweise über die Bretter schoben, wobei
    das Holz aufschrie, als täte man ihm ein Leides
    an. Dann wieder verfolgten sie das grimmige
    Werk einer Säge, das polternde Tun eines Ham-
    mers, vor dem
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