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Salto mortale

Salto mortale

Titel: Salto mortale
Autoren: Jakob Bosshart
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Tagen hetzte er seine Phan-
    tasie ab, um passende Kinderunterhaltung zu
    suchen. Es fiel ihm nicht viel ein, denn seine
    eigene Jugend war nichts weniger als ein Spiel
    gewesen. Endlich kam ihm ein erlösender Ge-
    danke: er wollte mit den Knaben das als Zeit-
    vertreib üben, was als Arbeit fast sein ganzes
    Leben ausgefüllt hatte, bis zu dem Tage, da man
    ihm mit brutalen Worten zu verstehen gegeben,
    seine Sprünge und Purzelbäume seien nicht
    mehr elastisch und geschmeidig genug, mit so
    hartknochiger Kunst sei niemand gedient.
    „Hört, Buben,“ sagte er eines Tages zu ih-
    nen, als sie fast nicht zu bändigen waren, „wer
    von euch beiden zuerst auf den Händen ste-
    hen kann, bekommt einen funkelnagelneuen
    Fünfer!“ Und, das Wort mit der Tat begleitend,
    langte er ein Nickelstück aus seinem Geldbeu-
    tel und spiegelte es vor den Augen der Armen
    in der Sonne. Das verfing. Gleich ging es an
    ein Probieren und Zappeln und Purzeln und
    Lachen. Der Lehrmeister, um den Zöglingen
    zu zeigen, daß das Kunststück möglich sei, zog
    Rock und Weste vom Leib, stemmte sich auf
    die Hände und schritt so, mit den Fußspitzen
    fast die Decke berührend, das ganze Zimmer
    ab, was große Verwunderung und Heiterkeit
    absetzte. In einem Augenblick hatte er die Her-
    zen der Kleinen gewonnen und zugleich Macht
    über sie erlangt, was bei Kindern dem immer
    gelingt, der es versteht, in ihren Kreis hinab-
    zusteigen, ohne aufzuhören, ihnen in irgend
    etwas vorbildlich zu sein.
    Unverdrossen zappelten an jenem Nachmit-
    tage die kleinen Füße in der Luft und stemm-
    ten sich die Arme gegen den Zimmerboden,
    die Köpfe wurden rot wie Pfingstrosen und die
    Augen glänzten vor Lust. Keinen Augenblick
    dachten die Knaben an den ‚Sack‘, die Werk-
    stätte und den brausenden Platz; sie rangen um
    das Nickelstück, bis sie todmüde waren und
    einschliefen.
    Wie sie so dalagen, der eine auf dem Fuß-
    boden, der andere auf der Bank, und ruhig den
    Atem einzogen und ausstießen, betrachtete
    das Kindermädchen Valentin sie lange, und Er-
    innerungen stiegen in ihm auf, Bilder aus der
    eigenen schweren Jugend und der halbverges-
    senen Heimat. Er sah das alte Städtchen mit
    der krummen Hauptgasse, in der die Gänse
    herumwatschelten, das Tor mit der Uhr, die
    nie gehen wollte, als fürchtete sie sich vor der
    neuen Zeit. Neben dem Tor ein zusammenge-
    drücktes Häuschen, das seinen Kopf furchtsam
    neugierig hervorstreckte und in die Gasse hin-
    einschielte. In dem Häuschen drei Buben, dar-
    unter er selber, über ihnen der strenge Vater,
    ein, man wußte nicht warum, seiner Stelle
    entsetzter Turnlehrer, schroff, verbittert, und
    nun bemüht, seine Knaben Akrobatenkünste
    zu lehren, jahrelang Tag um Tag, bis endlich
    die ganze Gesellschaft flügge wurde und durch
    das Tor mit der stockenden Uhr ausflog, in die
    Weite, von Flecken zu Flecken, von Stadt zu
    Stadt und von einer Ungewißheit zur andern.
    Wanderbilder stiegen vor ihm auf: die Tage
    der Entbehrung, da die Menschen sich gegen
    ihn und seine Brüder verschworen zu haben
    schienen, und sie ihre Kunststücke vor leeren
    Stühlen machen mußten; dann die Zeit des
    Gelingens und Wohlergehens, wo man vom
    Besten essen und vom Feinsten trinken konnte.
    Es waren kurze Jahre. Der Vater gewöhnte sich
    an, täglich einen starken Rausch zu trinken,
    und eines Tages starb er eines raschen Todes
    nach einem Sturz von der Treppe. Die Akro-
    batenbrüder wurden von einem Unternehmer
    gemietet und bald darauf auseinander gerissen,
    dahin und dorthin, in alle Welt, einander für
    immer verloren.
    „Hätte der Vater das Geschäft verständiger
    angepackt, ich säße jetzt in einem goldenen
    Nest,“ dachte Häberle aufseufzend, und ein
    Gedanke blitzte in ihm auf. „Wenn ich aus den
    beiden Buben Artisten machte?“
    Er maß sie mit langen forschenden Blicken
    wie mit Zollstab und Zirkel. Sie waren an allen
    Gliedern gerade und wohlgeraten und hübsch
    obendrein: stark gekraustes braunes Haar, leb-
    hafte Augen, besonders beim Jüngsten, fester
    Nacken, gesunde Gelenke …
    Aber es waren ja nicht seine Kinder; würde
    die Mutter ihre Zustimmung geben?
    Warum nicht? Er sah sie vor sich, die wan-
    delnde, schleichende Mutlosigkeit, die sie war,
    die fast jedes Wort mit einem Hauch anfing
    und mit einem Seufzer schloß. Was konnte sie
    für die Buben andres tun, als in fremden Häu-
    sern fegen und knien und buckeln?
    „Nehme ich ihr nicht eine schwere Last ab?
    Was würde
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