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Salto mortale

Salto mortale

Titel: Salto mortale
Autoren: Jakob Bosshart
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Sie
    hätte ihr Kindermädchen ungern verloren und
    bat Meister Valentin demütig, ja ihre Worte
    nicht übel aufzunehmen.
    So blieb den Übungen ihr ungestörter
    Fortgang. Herr Häberle war ein vortrefflicher
    Lehrmeister, immer fand er ein Mittel, die
    Knaben bei guter Laune zu erhalten. Reichten
    Wurst und Brot nicht aus, so half er mit et-
    was Nasch- und Zuckerwerk nach, hie und da
    auch für besonders gute Leistungen mit einem
    Nickelstückchen. Er wußte, daß es reichliche
    Zinsen tragen würde. Die Kleinen nahmen es
    strahlend in die vor Freude und Gier zitternden
    Hände, um es am Abend der heimkehrenden
    Mutter auszuliefern.
    Nie wurde Meister Häberle ungeduldig, nie
    warf er den Knaben ein zischendes oder knur-
    rendes Wort hin, er war wie ein gutmütiger
    Onkel oder wie ein älterer Bruder, und seine
    knochigen Hände hatten die Weichheit von
    Katzenpfoten.
    An schönen Abenden führte er die Kleinen
    vor die Stadt hinaus, an der nahen Berghalde
    empor und kürzte ihnen den Weg mit Geschich-
    ten, deren Worte er mühsam und berechnend
    in seinen schlafarmen Nächten zusammenge-
    sucht hatte, Geschichten von Knaben, die sich
    mit Kunststücken aller Art einen ganzen Trag-
    korb voll Geld verdient hatten, und in denen
    Heinz und Franz sich immer selber erkannten.
    „Es waren einmal zwei arme Buben, die hat-
    ten ihren Vater verloren. Und sie gingen von
    Hause weg, um ihn zu suchen und heimzuho-
    len. Dabei kamen sie in einen großen Wald, und
    als sie einen halben Tag lang gegangen waren,
    stießen sie auf einen seltsamen Baum, dessen
    Laub nicht Laub war, wie das eines Apfel- oder
    Kirschbaumes, sondern jedes Blatt war ein
    Golddukaten, und die Dukaten klingelten bei
    jedem Windstoß gegeneinander und kicherten
    und flüsterten:
    „Frisch und munter!
    Holt uns herunter!“
    Die Buben, einer nach dem andern, such-
    ten hinaufzuklettern; aber der Stamm war glatt
    wie ein Aal, es war nicht hinanzukommen.
    Und immer flüsterten die Blätter: „Frisch und
    munter!“
    Die Knaben sahen mit sehnsüchtigen Au-
    gen zu ihnen empor und jeder versuchte einen
    Sprung und reckte die Hände. Die Dukaten
    hingen zu hoch und kicherten und neckten die
    Kleinen:
    „Lernt fliegen wie Mücken,
    So mag’s euch gelücken!“
    Da fingen die Knaben an das Fliegen zu ler-
    nen und sprangen in die Luft, den Golddukaten
    entgegen, bis die Nacht sank und sie todmüde
    unter dem Baume einschliefen. Im Traum aber
    tönte in einem fort das Wort auf sie herab:
    „Frisch und munter!
    Holt uns herunter!“
    Bevor die Waldvögel zu zirpen und zu
    schlagen anfingen, waren die Knaben wieder
    auf den Füßen und begannen aufs neue das
    Springen und Fliegenlernen und freuten sich,
    daß es ihnen schon etwas höher glückte als
    gestern. Aber es reichte immer noch nicht bis
    zum ersten Zweig. Ja, es schien ihnen, daß der
    Ast sie äffe und jedesmal, wenn sie sprangen,
    einen Ruck nach oben tue, wobei das Laub
    daran sich in Neckerei und Spott erging.
    Schon stand die Sonne gerade über dem
    Baum, und das Goldlaub glänzte und funkelte
    und flunkerte so wunderbar, daß die Knaben
    von dem Scheine halb geblendet wurden und
    vor Begier nach dem Geblitz und Geflimmer
    zitterten.
    Da kam einem ein Gedanke, ich glaube, es
    war der Jüngste.
    „Stell dich aufrecht hin“, sagte er zum Bru-
    der, und als dieser so getan, kletterte er ihm
    auf die Schultern und von den Schultern auf
    den Kopf, ließ sich in die Knie nieder, streckte
    die Arme nach vorn und holte zum Sprunge
    aus. Und der Sprung geriet so wohl, daß der
    Kleine nicht nur den Ast erreichte, sondern
    hoch darüber wegflog und auf der andern Seite
    herunterpurzelte.
    Dem Baum aber gefiel das Kunststück der-
    maßen, daß er sich vor Lachen nicht halten
    konnte und von den Wurzeln bis zum Wipfel
    sich ganz unbändig schüttelte, und bei dem
    Schütteln und Rütteln fielen die schweren Gold-
    blätter von den Zweigen und klingelten zu Bo-
    den und auf die Köpfe der erstaunten Buben.
    Im Nu war der Wunderbaum kahl und die
    nackten Zweige seufzten:
    „Ich hab’ kein Laub nicht mehr;
    Wenn’s nur schon Frühling wär’!“
    Darauf achteten die zwei Brüder nicht. Sie
    füllten sich die Taschen und, da ihnen das zu
    wenig schien, flochten sie einen großen Trag-
    korb und warfen Golddukaten hinein, bis er ih-
    nen fast zu schwer war. Dann stapften sie der
    Heimat zu. Es war Nacht, als sie in die Stube
    eintraten. Sie schütteten all ihr Gold auf den
    Boden aus, und der Raum wurde
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