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Salto mortale

Salto mortale

Titel: Salto mortale
Autoren: Jakob Bosshart
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erstickten.
    Es rollt eben in den Adern jeder Stadtbevöl-
    kerung etwas von jenem Römerblut, das selt-
    sam zu fiebern und zu wallen begann, wenn
    über Menschenfleisch Tod und Verderben lau-
    erten, zu fiebern und zu wallen, halb in Grau-
    sen, halb in Lust.
    Während des Tumultes war eine junge,
    schöne Dame an die Rampe getreten und hatte
    Freschino ein Zeichen gegeben, näher zu kom-
    men. Als sie ihn erlangen konnte, schloß sie
    ihn in die Arme und bedeckte ihm Stirn, Au-
    gen und Wangen mit Küssen.
    Franz jedoch wand sich ungestüm aus den
    Armen der Holden, las schnell ein paar Sträuße
    von den Brettern auf und warf sie der Mutter,
    die er fast mit den Händen berühren konnte,
    in den Schoß.
    „Die gelten dir! Was wirfst du sie andern
    zu?“ fragte die Dame.
    Signor Ercole, der bescheiden lächelnd hin-
    ter dem Knaben stand, flüsterte ihr zu: „Es ist
    ja seine Mutter!“
    „Seine Mutter?“
    „Wer?“
    „Was?“
    „Seine Mutter? seine Mutter!“
    So ging es von Bankreihe zu Bankreihe.
    „ Unsere Mutter!“ hätte Heinz in den Raum
    hinaus schreien mögen, „unsere, meine Mutter!“
    Er zitterte vor Erregung. Der gedemütigte
    Ehrgeiz und die Furcht, bei der Mutter nun
    nichts mehr zu gelten, marterten ihn, das Ge-
    fühl, es geschehe ihm unrecht, entfachte sei-
    nen Zorn. Tat er denn nicht alles, was in seinen
    Kräften lag? War er wirklich gar nichts? nur
    das Seil des Kleinen? Könnte der seine Kunst-
    stücke so sicher ausführen, wenn er, Heinz,
    nicht fest und treu wie ein Stein ihn stützte?
    Mußte er nicht der Stärkere, Ruhigere sein?
    „Ich will nicht mehr mittun!“ schrie es in ihm,
    und er hatte Mühe, die Tränen zu bändigen,
    die ihm aus den Augen springen wollten.
    „Bis! Bis!“ fing der Saal, der wie ein unge-
    heurer Tierrachen nach der Bühne gähnte, wie-
    der zu brüllen an.
    „Nochmals denn!“ raunte Signor Ercole hin-
    ter den Knaben.
    „Nein!“ erwiderte Heinz.
    Ein funkelnder Blick aus des Direktors Au-
    gen traf ihn; er aber trotzte. Das Publikum,
    seinen Widerstand erratend, speite wütend
    sein „Bis!“ nach ihm. Wozu hatte man seine
    Eintrittskarte bezahlt?
    Da fühlte sich Heinz weich an der Hand ge-
    faßt. Franz war es; er sah ihn mit glänzenden
    Augen an und zog ihn sanft nach dem Gestell
    mit der Drehscheibe. Ihm konnte Heinz nicht
    widerstreben, er schämte sich der Gefühle, die
    ihn eben gepeinigt und in denen es an Neid
    und ohnmächtigem Groll gegen den Kleinen
    nicht gefehlt hatte. Wären die vielen Menschen
    nicht dagewesen, er hätte ihn reumütig und
    herzlich geküßt, wie zuweilen in der Fremde in
    schmerzlichen Stunden.
    Er richtete sich auf der Scheibe empor, der
    Saal hörte auf zu toben und wurde wieder zum
    Riesenbrustkorb, der den Atem anhält. Heinz
    fühlte das Gewicht des Bruders über sich kom-
    men und straffte alle Muskeln an, um recht fest
    zu halten, denn er merkte wohl, daß das Herz
    ihm schneller und unruhiger ging als sonst
    und er sich zusammennehmen mußte.
    Wie er alle Kraft aufbot, an den Bruder und
    seine halsbrecherische Lage dachte und sich
    das Wort wiederholte, das ihm einst die Mut-
    ter auf den Weg gegeben hatte: „Trag’ Sorge
    zu ihm!“ erwachte, er wußte nicht wie, eine
    teuflische Stimme in ihm und flüsterte ihm zu:
    „Bist du denn nichts? Was wäre er, wenn das
    Seil …?“
    Er wollte nicht darauf hören, es war so ent-
    setzlich, das Wort, so höllisch der Gedanke,
    daß ihn schauderte. Aber Gedanke und Wort
    wirkten und klangen nach: „Was wäre er, wenn
    das Seil jetzt nicht hielte?“
    Die Scheibe fing sich zu drehen an. Bei dem
    Ruck, den ihre erste Bewegung gab, schwankte
    Heinz leicht, und vernehmlicher noch raunte
    die Teuselsstimme in seiner Brust.
    Er stellte sich in fliegenden Bildern die Sa-
    che vor: sein Zusammenknicken, den Sturz,
    den Schrei, die Mutter …
    Er fing zu zittern an, der Schweiß trat ihm
    auf Gesicht und Rücken, der Atem ging keu-
    chend und stoßweise aus der Brust, sein Bru-
    der lastete wie ein bleierner Berg auf ihm, er
    biß die Zähne zusammen: „Halt fest!“ raunte
    er sich zu.
    Die Augen quollen ihm aus den Höhlen.
    Zwischen den Armen hindurch erblickte er
    die Mutter, die durch die Drehung der Scheibe
    in seinen Gesichtskreis gekommen war. Ihre
    Blicke hingen an ihm, so schien es ihm, das
    gab ihm die Kraft auszuharren.
    Franz purzelte seinen Salto mortale, und
    das Beifallgejauchze und -gebrüll wogte und
    brandete über ihn herein. Heinz aber sank
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