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Rushdie, Salman

Rushdie, Salman

Titel: Rushdie, Salman
Autoren: Luka und das Lebensfeuer
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was Luka einfach unfair fand. Soraya meinte, er
solle den Kopf deshalb nicht hängenlassen. «Du bist ein Kind mit vielen
Begabungen», sagte sie, «und vielleicht hast du ja recht, wenn du glaubst, dass
der rechte Weg linksherum führt und dass wir Rechtshänder gar nicht recht
haben, sondern falschliegen. Mögen deine Hände dich führen, wohin sie wollen.
Lass sie nur nicht untätig sein. Geh linksherum, wann immer du willst, aber
trödle nicht, bleib nicht links liegen.»
    Nachdem
der Fluch, den Luka gegen den Zirkus der Großen Feuerringe ausgestoßen hatte,
auf solch spektakuläre Weise in Erfüllung gegangen war, raunte Harun seinem
kleinen Bruder oft mit Gruselstimme zu, Lukas Linkshändigkeit lasse bestimmt
auf dunkle, in ihm wogende Kräfte schließen. «Pass bloß auf», unkte er, «dass
du nicht den Weg linker Hand gehst.» Der Weg linker Hand führte offenbar zur
Schwarzen Magie, doch da Luka nicht den blassesten Schimmer hatte, wie er sich
- selbst wenn er es gewollt hätte - für diesen Weg entscheiden sollte, hielt
er die Warnung seines Bruders für eine jener Bemerkungen, mit denen Harun ihn
manchmal ärgerte, weil er einfach nicht kapierte, dass Luka es nicht mochte,
wenn man ihn foppte.
    Vielleicht
wuchs Luka deshalb mit so großer Faszination und einem gewissen
Einfühlungsvermögen für fremde Wirklichkeiten auf, weil er von einer
Linker-Hand-Dimension träumte, weil sein Vater von Beruf Geschichtenerzähler
war oder weil sein Bruder ein großes Abenteuer erlebt hatte, vielleicht gab es
aber auch gar keinen bestimmten Grund außer dem, dass er eben so war, wie er
war. Wenn er in der Schule im Theater auftrat und einen Buckligen spielte,
einen Kaiser, eine Frau oder einen Gott, wusste er dermaßen zu überzeugen, dass
alle, die ihn sahen, glaubten, dem Jungen sei vorübergehend ein Buckel
gewachsen, er habe einen Thron bestiegen, das Geschlecht gewechselt oder sei
zum Gott geworden. Und wenn er zeichnete und malte, erwachten die Geschichten
seines Vaters zu wundersamem, phantasmagorischem, herrlich buntem Leben: die
Geschichte von den elefantenköpfigen Gedächtnisvögeln etwa, die sich an alles
je Geschehene erinnern konnten, oder die Geschichte von den Krankfischen im
Zeitfluss, jene vom Land der Verlorenen Kindheit oder die von dem
Ort-an-dem-niemand-wohnte. Dafür aber war er in Mathematik und Chemie nicht
besonders toll. Seiner Mutter, die wie ein Engel singen konnte, ansonsten aber
eher ein praktisch veranlagter, vernünftig denkender Mensch war, gefiel das
nicht, doch sein Vater war begeistert, denn Raschid Khalifa fand Mathematik
mindestens ebenso mysteriös wie Chinesisch, nur doppelt so uninteressant, und
war als Junge durch die Chemieprüfung gefallen, weil er konzentrierte
Schwefelsäure über seine Prüfungsaufgaben gekippt hatte und deshalb eine
Arbeit mit lauter Löchern einreichen musste.
    Für Luka
war es ein Glück, dass er zu einer Zeit lebte, in der es eine schier unendliche
Zahl von parallelen Realitäten als Spielzeug zu kaufen gab. Wie alle seine
Freunde wuchs er damit auf, Flotten außerirdischer Raketen zu zerstören, hatte
sich als kleiner Klempner auf eine Reise durch viele prallbunte, brennende,
quirlige und vertrackte Levels begeben, um eine zimperliche Prinzessin aus dem
Schloss eines Ungeheuers zu befreien, und sich in einen schallschnellen Igel
verwandelt, in einen Straßenkämpfer, einen Rockstar oder mit Kapuzenmantel
seine Stellung behauptet, während eine dämonische Gestalt mit Stummelhörnern
und rotschwarzem Gesicht um ihn herumsprang und mit einem doppelendigen Laserschwert
nach seinem Kopf schlug. Wie alle seine Freunde war er imaginären
Gemeinschaften im Internet beigetreten, Elektro-Klubs, in denen er zum
Beispiel die Identität eines Intergalaktischen Pinguins angenommen hatte,
benannt nach einem Mitglied der Beatles, und später die eines vollkommen frei
erfundenen, fliegenden Wesens, dessen Größe, Haarfarbe und sogar Geschlecht er
sich aussuchen und nach Belieben ändern konnte. Wie alle seine Freunde besaß
Luka eine breite Auswahl hosentaschengroßer Schachteln mit alternativen
Wirklichkeiten und verbrachte einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner
Freizeit damit, die eigene Welt zu verlassen, um die prächtigen, farbenfrohen,
faszinierenden und mit Musik untermalten Universen dieser Box zu betreten,
Universen, in denen der Tod nur vorläufig blieb (bis man so viele Fehler
beging, dass er endgültig wurde) und ein Leben etwas war, das man gewinnen
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