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Rushdie, Salman

Rushdie, Salman

Titel: Rushdie, Salman
Autoren: Luka und das Lebensfeuer
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viele. Auf der Wöchnerinnenstation
hob er seinen neugeborenen Sohn aus dem Bettchen, wiegte ihn sanft in den
Armen und überschüttete ihn mit unsinnigen Fragen. «Wer hätte das gedacht? Wo
kommst du nur her, kleiner Mann? Und wie hast du zu uns gefunden? Also, was
sagst du dazu? Wie heißt du überhaupt? Und was willst du mal werden? Was
wünschst du dir vom Leben?» Und auch für Soraya hatte er eine Frage.
«Unglaublich», staunte er und schüttelte sein zur Glatze neigendes Haupt. «Aber
sag mir, was hat so ein Wunder in unserem Alter bloß zu bedeuten?» Als Luka zur
Welt kam, war Raschid nämlich bereits fünfzig Jahre alt, doch hörte er sich in
diesem Augenblick wie jeder x-beliebige junge, grünschnäbelige Vater an, der
kopflos und auch ein bisschen beklommen neuer Verantwortung entgegenblickt.
    Soraya
nahm ihm das Baby ab und beruhigte den frischgebackenen Vater. «Er heißt
Luka», sagte sie, «und dieses Wunder bedeutet, dass wir einen Jungen zur Welt
gebracht haben, der offenbar die Zeit zurückdrehen kann, denn er lässt sie in
die umgekehrte Richtung fließen und macht uns wieder jung.»
    Soraya
wusste, wovon sie redete, denn während Luka älter wurde, schienen seine Eltern
tatsächlich jünger zu werden. Als Baby Luka beispielsweise zum ersten Mal
aufrecht saß, konnten seine Eltern keinen Augenblick länger stillsitzen. Als er
zu krabbeln begann, hüpften sie herum wie zappelige Kaninchen. Als er laufen
konnte, machten sie vor Freude Luftsprünge. Und als er zu reden begann, nun,
da hätte man meinen können, der legendäre Sturzbach der Worte selbst sprudele
aus Raschids Mund und der Mann würde nie mehr aufhören, sich über die
großartigen Leistungen seines Sohnes zu verbreiten.
    Der
Sturzbach der Worte rauscht übrigens aus dem Meer der Geschichten hinab in den
See der Weisheit, dessen Wasser, vom Anbeginn aller Tage erhellt, im Zeitfluss
entspringt. Der See der Weisheit liegt, wie allgemein bekannt, im Schatten der
Wissensberge, auf deren höchstem Gipfel das Lebensfeuer brennt. Diese
wichtigen Informationen über die Geographie der magischen Welt - ja, deren
bloßes Vorhandensein - waren jahrtausendelang von rätselhaften, vermummten
Spielverderbern geheim gehalten worden, die sich selbst Aalim nannten, die Gelehrten,
doch mittlerweile war das Geheimnis längst gelüftet, denn kein Geringerer als
Raschid Khalifa hatte in vielen berühmten Geschichten der Öffentlichkeit davon
erzählt. So wusste jedermann in Kahani sehr wohl, dass es parallel zu unserer
Welt eine Welt der Magie gab und dass sich ihr nicht nur die Weiße und Schwarze
Magie verdankten, sondern auch Träume, Albträume, Märchen, Fabeln, Lügen,
Drachen, Feen, blaubärtige Dschinns, mechanische Vögel, die Gedanken lesen
konnten, vergrabene Schätze, Musik, Geschichten, Hoffnungen, Ängste, die Gabe
ewigen Lebens, der Engel des Todes, der Engel der Liebe, Pausen, Witze, gute
Ideen, dämliche Ideen und jedes Happy End - wie überhaupt beinahe alles, was
auch nur halbwegs interessant war. Die Aalim, die Wissen für etwas hielten, was
ihnen allein gehörte und viel zu kostbar war, um es mit irgendjemandem zu
teilen, konnten Raschid Khalifa jedenfalls nicht leiden, weil er die Katze aus
dem Sack gelassen hatte.
    Doch noch
ist nicht der richtige Moment gekommen - auch wenn er noch kommen wird -, um
über Katzen zu reden. Erst einmal muss von dem Schrecklichen berichtet werden,
das in jener sternenhellen Nacht geschah.
     
    *
     
    Luka war
Linkshänder, fand jedoch, dass mit ihm nichts verkehrt war, dafür aber so
einiges mit dem Rest der Welt. Türknäufe wurden falsch herum gedreht, Gitarren
falsch herum bespannt, Schrauben beharrten darauf, im Uhrzeigersinn
eingeschraubt zu werden, und in den meisten Sprachen verlief die Schrift
umständlich von links nach rechts, nur eine ausgenommen, die er einmal hatte
lernen wollen, doch ausgerechnet daran war er seltsamerweise gescheitert.
Töpferscheiben drehten sich in die falsche Pachtung, Derwische könnten
schneller wirbeln, wirbelten sie andersherum, und wie viel besser und
vernünftiger wäre die Welt, dachte Luka, wenn die Sonne im Westen auf- und im
Osten unterginge. Träumte er von einem Leben in dieser verkehrten Dimension,
vom Leben auf dem alternativen Linkshänderplaneten Falschherum, auf dem er
selbst normal und nichts Besonderes wäre, wurde Luka manchmal traurig. Wie die
meisten Menschen war sein Bruder Harun Rechtshänder, und deshalb schien ihm
vieles leichter zu fallen,
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