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Rushdie, Salman

Rushdie, Salman

Titel: Rushdie, Salman
Autoren: Luka und das Lebensfeuer
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oder
ansparen konnte oder das einem wundersamerweise gewährt wurde, weil man den
richtigen Pilz gegessen hatte, mit dem Kopf an den richtigen Stein gestoßen
oder mitten durch einen magischen Wasserfall gelaufen war; und man konnte so
viele Leben sammeln, wie es das Glück und die eigene Geschicklichkeit
zuließen. Lukas kostbarster Besitz stand in seinem Zimmer neben einem kleinen
Fernseher, die magischste aller Konsolen, jene, die ihm die buntesten,
komplexesten Reisen in den Anderraum, die Anderzeit gewährte, in ein Reich
vieler Leben und bloß zeitweiliger Tode: seine neue Muu. Und so wie Luka sich
auf dem Schulhof in den mächtigen General Luka verwandelte, den Bezwinger der
Armee Seiner Kaiserlichen Hoheit, Kommandant der gefürchteten LAF, der Luka Air
Force aus lauter mit Juckpulverbomben beladenen Papierflugzeugen, so fühlte
sich Luka, wenn er die Welt von Mathematik und Chemie hinter sich ließ, um das
Reich seiner Muu zu betreten, zu Hause, wenn auch
in völlig anderer Weise zu Hause, als er sich in seinem Zuhause zu Hause
fühlte, und er wurde, zumindest in den eigenen Augen, zu Super-Luka, dem
Großmeister aller Games.
    Wieder
einmal war es sein Vater Raschid Khalifa, der Luka beim Spielen unterstützte
und ihm bei seinen Abenteuern mit lachhaftem Ungeschick zu helfen versuchte.
Soraya gab sich naserümpfend unbeeindruckt, misstraute als Frau mit gesundem
Menschenverstand der neuen Technologie und fürchtete, die diversen Zauberboxen
könnten unsichtbare Wellen und Strahlen verströmen, die den Verstand ihres geliebten
Sohnes verbrutzelten. Raschid tat ihre Bedenken leichthin ab, was Sorayas
Sorgen nur noch vermehrte. «Keine Wellen! Keine Strahlen!», rief Raschid.
«Sieh doch nur, wie gut sich seine Hand-Augen-Koordination entwickelt und wie
er Probleme bewältigen lernt, Rätsel löst, Hindernisse überwindet und beim
Aufstieg durch die verschiedenen Schwierigkeitslevels unglaubliche Fähigkeiten
erwirbt.»
    «Das sind
nutzlose Fähigkeiten», gab Soraya zurück. «In der realen Welt gibt es keine
Level, bloß Schwierigkeiten. Wenn er in seinen Spielen einen unbedachten Fehler
macht, bekommt er eine neue Chance. Macht er aber in seinem Chemietest einen
unbedachten Fehler, werden ihm Punkte abgezogen. Das Leben ist härter als
jedes Videospiel. Das muss er begreifen lernen - und du übrigens auch.»
    Raschid
gab sich nicht geschlagen. «Sieh doch nur, wie flink er die Finger bewegt»,
sagte er. «In diesen Welten behindert es ihn gar nicht, dass er Linkshänder
ist. Schon unglaublich, aber den Joystick bedient er mit beiden Händen fast
gleich geschickt.» Soraya schnaubte genervt. «Hast du dir mal seine
Handschrift angesehen?», fragte sie. «Werden ihm Igel und Klempner dabei auch
helfen? Werden ihn Wii und PeEsPe durch die Schule bringen? Allein diese Namen!
Dieses Gewiesel und Gepiesel! Klingt doch nach Klo!» Raschid lächelte nachsichtig.
«Genau genommen heißen sie Konsolen, und man spielt sie mit Controllern»,
begann er, aber Soraya winkte ab und machte auf dem Absatz kehrt. «Komm mir
bloß nicht auf diese Tour», sagte sie in ihrem vornehmsten Ton. «Sonst verliere
ich noch meine Kontrolle und ihr eure Controller.»
    Raschid
Khalifa fand es nicht weiter überraschend, dass er an der Muu nicht zu
gebrauchen war. Sein Leben lang hatte man ihn für seine flinke Zunge gerühmt,
doch war er mit den Händen, ehrlich gesagt, schon immer ziemlich ungeschickt
gewesen, diesen ungelenken, plumpen, butterfingrigen Dingern, denen alles zu
entgleiten schien. Im Laufe ihrer zweiundsechzig Jahre hatten sie zahllose Sachen
fallen lassen und noch mehr zerbrochen, und was sie nicht fallen lassen oder
zerbrechen konnten, hatten sie verpfuscht und alles verschmiert, was er
schrieb. Kurz und gut, er besaß einfach kein Händchen für irgendwas. Wenn
Raschid einen Nagel in die Wand hauen wollte, kam ihm immer ein Finger in die
Quere, und tat er sich weh, führte er sich wie ein Baby auf. Wenn Raschid
seiner Frau anbot, ihr zur Hand zu gehen, bat sie ihn - meist ein wenig
schnippisch -, bloß lieber keine Hand zu rühren.
    Allerdings
konnte sich Luka an eine Zeit erinnern, in der die Hände seines Vaters durchaus
zum Leben erwacht waren.
    Das
stimmte, denn Luka war erst wenige Jahre alt gewesen, als die Hände seines
Vaters oft recht behände wurden und regelrecht einen eigenen Willen
entwickelten. Sie hatten sogar eigene Namen: Da gab es Niemand (die rechte
Hand) und Unfug (die linke). Meist gehorchten sie
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