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Rushdie, Salman

Rushdie, Salman

Titel: Rushdie, Salman
Autoren: Luka und das Lebensfeuer
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und taten, was sie tun
sollten, fuchtelten zum Beispiel in der Luft herum, wenn Raschid im Gespräch
etwas deutlich machen wollte (er redete gern und viel), oder schoben ihm in
regelmäßigen Abständen die Gabel in den Mund (er aß gern und viel). Sie waren
sogar bereit, jenen Körperteil zu waschen, den Raschid nur Pe-O-Pe-O nannte,
und das fand Luka wirklich sehr anständig von ihnen. Wie er allerdings bald
feststellen musste, entwickelten sie oft auch einen kitzligen Eigensinn, vor
allem wenn Luka in Reichweite war. Dann fing die rechte Hand seines Vaters
manchmal an, ihn zu kitzeln, bis Luka flehte: «Aufhören, bitte aufhören!», doch
sein Vater erwiderte: «Aber das bin nicht ich. Niemand kitzelt dich»; wenn aber
auch noch die linke Hand mitmachte und Luka vor Lachen brüllend protestierte:
«Aber du bist das, du kitzelst mich», antwortete sein Vater: «Weißt du was?
Das ist Unfug.»
    In letzter
Zeit waren Raschids Hände jedoch langsamer geworden und schienen wieder nichts
als Hände zu sein. Übrigens wurde der Rest von Raschid auch immer langsamer.
Er ging langsamer als zuvor (obwohl er noch nie schnell zu Fuß gewesen war), aß
langsamer (wenn auch nicht viel weniger) und, was am schlimmsten war, er redete
sogar deutlich langsamer (dabei hatte er immer sehr, sehr schnell geredet).
Außerdem dauerte es in letzter Zeit immer länger, bis er einmal lächelte, und
manchmal glaubte Luka, dass auch die Gedanken im Kopf seines Vaters langsamer
geworden waren. Selbst die Geschichten, die er erzählte, schienen sich
langsamer als früher zu entwickeln, und das war schlecht fürs Geschäft. «Wenn
er in diesem Tempo langsamer wird», erkannte Luka erschrocken, «dann kommt er
bald völlig zum Stillstand.» Er fand die Vorstellung eines vollends reglosen
Vaters - mitten im Satz erstarrt, mitten in der Bewegung, mitten im Schritt,
an Ort und Stelle - entsetzlich, doch würde es wohl dazu kommen, wenn nicht
bald etwas passierte, das Raschid Khalifa wieder auf Touren brachte. Also
begann Luka sich zu fragen, wie man einen Vater beschleunigte; wo war der
Schalter, mit dem man den abnehmenden Zoom wieder heranholte? Noch ehe er aber
das Problem lösen konnte, geschah das Schreckliche in jener schönen, sternenhellen
Nacht.
    Einen
Monat und einen Tag nach der Ankunft von Hund dem Bär und Bär dem Hund im Hause
Khalifa hing der Himmel, der sich über der Stadt Kahani, dem Fluss Silsila und
dem Meer jenseits davon wölbte, so wundersam voller Sterne, war gar so
sternenhell, dass selbst die Wehmutsfische aus den Tiefen des Wassers an die
Oberfläche kamen, überrascht nach oben sahen und ganz gegen ihren Willen zu
lächeln begannen (und wer je einen lächelnden, überrascht dreinschauenden Wehmutsfisch
gesehen hat, der weiß, was für ein unschöner Anblick das ist). Einem Zauber
gleich funkelte der breite Streifen der Galaxie am klaren Nachthimmel und erinnerte
jedermann daran, wie es in der guten alten Zeit gewesen war, ehe die Menschen
die Luft verschmutzt hatten und den Himmel vor ihren Blicken verbargen. In der
Stadt sah man wegen des Smogs die Milchstraße mittlerweile so selten, dass
ihre Bewohner sich nun von Haus zu Haus zuriefen, um alle auf die Straße zu
locken und gemeinsam nach oben zu schauen. Und sie strömten nach draußen und
standen da, das Kinn in die Luft gereckt, als bäte die gesamte Nachbarschaft
darum, einmal kräftig durchgekitzelt zu werden; Luka dachte kurz daran, sich
zum Chefkitzler zu ernennen, besann sich dann aber eines Besseren.
    Die Sterne
schienen zu tanzen und sich in großen, komplizierten Kreisen zu drehen, wie
Frauen auf einer Hochzeit, Frauen in ihren besten Kleidern, die weiß, grün und
rot funkelten, weil sie mit lauter Diamanten, Smaragden und Rubinen bestickt
waren, Frauen, die am Himmel tanzten, über und über mit feurigen Juwelen behängt.
Und der Tanz der Sterne spiegelte sich im Tanz auf den Straßen der Stadt, denn
mit Tamburinen und Trommeln kamen die Bewohner hervor und feierten, als hätte
jemand Geburtstag. Bär und Hund feierten ebenfalls, jaulten und hüpften im
Kreis herum, und Harun, Luka, Soraya und ihre Nachbarin, Miss Oneeta, tanzten
mit. Nur Raschid hielt sich zurück. Er saß auf der Veranda, schaute zu, und
niemand, nicht einmal Luka, konnte ihn dazu überreden, das Tanzbein zu
schwingen. «Ich fühle mich so schwer», klagte er. «Meine Beine kommen mir wie
Kohlensäcke vor und die Arme wie Holzklötze. Ich glaube, um mich herum hat die
Schwerkraft
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