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Rushdie, Salman

Rushdie, Salman

Titel: Rushdie, Salman
Autoren: Luka und das Lebensfeuer
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zugenommen, denn ich werde zu Boden gedrückt.» Soraya meinte, er
sei einfach nur ein Faulpelz, und nach einer Weile ließ auch Luka ihn sitzen
und rannte hinaus zu dem funkelnden Fest unter den Sternen, während sein Vater
eine Banane von dem Büschel aß, das er einem fahrenden Händler abgekauft
hatte.
    Die große
Himmelsschau ging bis spät in die Nacht, und solange sie währte, schien sie ein
Omen für etwas Gutes zu sein, für den Beginn einer unverhofft schönen Zeit.
Luka sollte jedoch bald begreifen, dass sie nichts dergleichen war. Vielmehr
schien sie eine Art Abschied gewesen zu sein, ein letztes Hurra, denn in dieser
Nacht sank Raschid Khalifa, der legendäre Geschichtenerzähler von Kahani, in
einen tiefen Schlaf, mit lächelndem Gesicht, einer Banane in der Hand und
einem Glitzern auf den Brauen, ohne am nächsten Morgen wieder aufzuwachen. Er
schlief einfach weiter, schnarchte leise vor sich hin, immer noch ein sanftes
Lächeln auf den Lippen. Er verschlief den ganzen Vormittag, dann den ganzen
Nachmittag, dann wieder die ganze Nacht; und so ging es weiter, Vormittag um
Vormittag, Nachmittag um Nachmittag, Nacht um Nacht.
    Niemand
vermochte ihn zu wecken.
    Anfangs
dachte Soraya, er sei nur übermüdet, und ermahnte jedermann, leise zu sein, um
ihn nicht zu stören. Bald aber begann sie sich Sorgen zu machen und versuchte
selbst, ihn zu wecken. Erst redete sie sanft auf ihn ein und murmelte Worte der
Liebe. Dann strich sie ihm über die Brauen, küsste seine Wangen und sang ihm
ein Liedchen vor. Schließlich verlor sie die Geduld, kitzelte ihn an den
Fußsohlen, rüttelte ihn heftig an den Schultern und brüllte ihm, als ihr
nichts weiter einfiel, aus Leibeskräften ins Ohr. Er brummte bloß ein
zustimmendes «Mmmmh», und das Lächeln wurde ein wenig breiter, aber wach wurde
er nicht.
    Soraya
setzte sich neben seinem Bett auf den Boden und vergrub den Kopf in den Händen.
«Was soll ich nur tun?», klagte sie. «Er ist schon immer ein Träumer gewesen,
aber jetzt hat er sich auf und davon gemacht und beschlossen, dass ihm seine
Träume lieber sind als ich.»
    Bald
bekamen die Zeitungen Wind von Raschids Zustand, und auf der Suche nach einer
Story schlichen und schleimten sich Journalisten durch Khalifas Nachbarschaft.
Soraya verscheuchte die Fotografen, aber die Story wurde trotzdem geschrieben. Kein Blabla mehr für den Schah von Bläh, trompeteten
die Schlagzeilen ein wenig grausam. Er schläft wie Schneewittchen, nur
nicht so schön.
    Als Luka
seine Mutter weinen und den Vater im Großen Schlaf versunken sah, war ihm, als
ginge die Welt unter, zumindest ein großer Teil der ihm bekannten Welt. Sein
Leben lang hatte er versucht, sich frühmorgens ins Schlafzimmer seiner Eltern
zu schleichen und sie zu überraschen, bevor sie aufwachten, doch waren sie
jedes Mal wach geworden, ehe er ihr Bett erreichte. Jetzt aber wachte Raschid
nicht mehr auf, und Soraya war untröstlich. Wäre dies doch nur ein Spiel,
dachte Luka manchmal, wäre es doch nicht die Wirklichkeit, sondern eine andere,
fiktive Version der Realität, damit er auf Exit klicken und ins richtige Leben
zurückkehren konnte. Doch es gab keinen Exit-Button. Er war zu Hause, auch
wenn sein Zuhause plötzlich zu einem seltsam fremden und furchteinflößenden
Ort geworden war, einem Ort ohne Lachen und, das war das Schlimmste, ohne
Raschid. Es kam ihm vor, als ob etwas Unmögliches möglich, etwas Undenkbares
denkbar geworden war, und dieses Schreckliche wollte Luka nicht einmal beim
Namen nennen.
    Als die
Ärzte kamen, ging Soraya mit ihnen in das Zimmer, in dem Raschid schlief, und
schloss die Tür. Harun durfte mit hinein, Luka aber musste bei Miss Oneeta bleiben,
und das hasste er, weil sie ihn mit Süßigkeiten vollstopfte und seinen Kopf so
fest an ihren Busen drückte, dass er sich darin verlor wie ein Reisender in
einem unbekannten Tal, das nach billigem Parfüm roch. Ein wenig später kam
Harun, um nach ihm zu sehen. «Sie wissen nicht, was mit ihm ist», erzählte er
Luka. «Er schläft einfach nur, doch sie können keinen Grund dafür finden. Also
haben sie ihm einen Tropf gelegt, weil er nichts isst und trinkt, der Körper
aber Nahrung braucht. Wenn er allerdings nicht wieder aufwacht...»
    «Er wacht
schon wieder auf!», rief Luka. «Er wird jeden Moment wieder wach!»
    «Aber wenn
er nicht wieder aufwacht», fuhr Harun fort, und Luka fiel auf, dass Harun die
Hände zu harten Fäusten geballt hatte, ja, selbst in seiner Stimme
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