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Rushdie, Salman

Rushdie, Salman

Titel: Rushdie, Salman
Autoren: Luka und das Lebensfeuer
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bedeutsamen Tag werden, denn in diesem Moment sahen sie den
Zirkus zum Ufer des mächtigen Silsila ziehen, wo das große Zelt aufgebaut
werden sollte. Der Silsila war ein breiter, träger, ekliger Fluss, der mit
seinem schlammigen Wasser nahe an ihrem Haus vorbei und durch die ganze Stadt
floss. Der Anblick der griesgrämigen Kakadus in ihren Käfigen und der
traurigen Dromedare, die sich grunzend über die Straße schoben, rührte Lukas selbstloses
junges Herz. Am allertraurigsten aber fand er den Anblick eines Käfigs mit
einem hundeelendigen Hund und einem bekümmerten Bären, die beide jammervoll in
die Gegend starrten. Den Schluss des Zugs bildete Captain Aag mit fiesen,
schwarzen Piratenaugen und wildem Barbarenbart. Urplötzlich wurde Luka wütend
(dabei war er ein Junge, der selten wütend wurde, aber schnell zum Lachen
gebracht werden konnte). Als der Flammengroßmeister auf einer Höhe mit Luka
war, schrie der Junge aus Leibeskräften: «Mögen deine Tiere dir nicht länger
gehorchen und die Feuerringe dein blödes Zelt verbrennen!»
    Ein
unerklärlicher Zufall wollte es jedoch, dass der Augenblick, in dem Luka wütend
aufschrie, einer jener seltenen Momente war, in dem sämtliche Geräusche der
Welt zugleich verstummen, kein Auto mehr hupt, kein Motorrad mehr knattert, das
Kreischen der Vögel in den Bäumen stockt und jedermann zu reden aufhört. In diese
magische Stille hinein tönte Lukas Stimme so laut und deutlich wie
Kanonendonner, und seine Worte schwollen an, bis der ganze Himmel voll davon
war und sie vielleicht sogar den Weg bis zum unsichtbaren Palast der
Schicksalsgöttinnen fanden, die manchen Menschen zufolge die Welt regieren.
Captain Aag zuckte zusammen, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen,
starrte Luka direkt in die Augen und musterte ihn mit solch brennendem Hass,
dass es den Jungen fast von den Füßen gerissen hätte. Gleich darauf machte die
Welt jedoch wieder ihren gewohnten Lärm, der Zirkus zog weiter, und Luka ging
mit Raschid zum Abendbrot nach Hause. Lukas Worte aber hingen noch in der Luft
und taten weiter ihr geheimes Werk.
    An jenem
Abend meldeten die Fernsehnachrichten, es sei im GroRiFe zu einem erstaunlichen
Vorfall gekommen: Sämtliche Tiere hatten sich geweigert, im Zirkus
aufzutreten. Zur Verblüffung der Clowns wie auch der Besucher hatten sich die
Tiere in einem rappelvollen Zelt mit beispiellosem Trotz gegen ihren Direktor
aufgelehnt. Der Flammengroßmeister stand inmitten der drei großen Feuerringe,
bellte Befehle und ließ die Peitsche knallen, doch als er die Tiere langsam
und entschlossen, wie eine Armee im Gleichschritt, auf sich zukommen sah und
merkte, dass sie sich aus allen Richtungen näherten, um einen tierischen Ring
der Wut um ihn zu schließen, da gingen die Nerven mit ihm durch; wimmernd sank
er auf die Knie und bettelte um sein Leben. Das Publikum buhte ihn aus und warf
Obst und Kissen in die Arena, dann härtere Sachen, Steine zum Beispiel,
Walnüsse und Telefonbücher. Aag wandte sich ab und trat die Flucht an. Die
Tiere öffneten eine Gasse, um ihn durchzulassen, und weinend wie ein Baby
rannte er davon.
    Das war
der erste erstaunliche Vorfall; der zweite fand noch in derselben Nacht, wenn
auch etwas später, statt. Gegen Mitternacht gab es ein Geräusch, ein Geräusch
wie das Rauschen und Rascheln von einer Milliarde Herbstblätter, gar von einer
Milliarde Milliarde Blätter, ein Geräusch, das sich vom Zirkuszelt am Ufer des
Silsila bis zu Lukas Schlafzimmer ausbreitete und ihn weckte. Als er aus dem
Fenster blickte, sah er, dass das Zelt auf dem Feld am Silsila in Flammen
stand. Die großen Feuerringe brannten lichterloh, und das war keine Illusion.
Lukas Fluch hatte funktioniert.
    Zum
dritten erstaunlichen Vorfall kam es am nächsten Morgen. Ein Hund mit einer
Marke um den Hals, auf der Bär stand, und
ein Bär mit der Marke Hund klingelten
an Lukas Tür - erst später sollte sich Luka fragen, wie sie eigentlich den Weg
zu ihm gefunden hatten -, und Hund der Bär wirbelte und walzte vor Freude, während
Bär der Hund ein Liedchen jaulte, bei dem es jedermann in den Füßen juckte.
Luka, sein Vater Raschid Khalifa, seine Mutter Soraya und sein älterer Bruder
Harun liefen zur Haustür, während Miss Oneeta, die über ihnen wohnte, von
ihrer Veranda herabrief: «Passt auf! Wenn Tiere singen und tanzen, dann ist
bestimmt Zauberei im Spiel!» Soraya Khalifa lachte nur. «Die Tiere feiern ihre
Freiheit», antwortete sie. Raschid jedoch
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