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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht
Autoren: Maggie Stiefvater
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jemand hereinkam. Ich lehnte meine Gitarre hinter meinem Hocker an die Wand.
    »Hi, Sam«, sagte Isabel. Es war seltsam, sie allein zu sehen, ohne dass Grace dabei war, und noch seltsamer, sie hier im Buchladen zu sehen, in der Behaglichkeit meiner Höhle aus Taschenbüchern. Der Tod ihres Bruders im letzten Winter hatte ihre Stimme härter, ihren Blick kälter werden lassen seit damals, als ich ihr zum ersten Mal begegnet war. Sie sah mich an – ein kritischer, blasierter Blick, unter dem ich mir naiv wie ein Kind vorkam.
    »Wie läuft’s?«, fragte sie, setzte sich auf einen leeren Hocker neben mir und schlug die langen Beine übereinander. Grace hätte ihre zwischen die Stuhlbeine geklemmt. Isabel entdeckte meinen Teebecher und nahm einen Schluck, dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus.
    Ich betrachtete meinen enteigneten Tee. »Wie immer. Neue Frisur?«
    Ihre perfekten blonden Locken waren einem rabiaten Kurzhaarschnitt gewichen, der sie wunderschön und gebrochen aussehen ließ.
    Isabel hob eine Augenbraue. »Ich hätte nicht gedacht, dass du ein Freund des Small Talks bist, Sam«, sagte sie.
    »Bin ich auch nicht«, erwiderte ich und schob meinen Teebecher nun endgültig zu ihr rüber. Es hätte sich irgendwie zu bedeutungsvoll angefühlt, daraus zu trinken, nachdem sie es getan hatte. Dann fügte ich hinzu: »Sonst hätte ich gefragt: ›Hey, müsstest du nicht in der Schule sein?‹«
    »Touché«, sagte Isabel und nahm den Becher, als wäre es seit jeher ihrer gewesen. Lässig und gleichzeitig elegant lümmelte sie auf ihrem Hocker. Ich kauerte auf meinem so gekrümmt wie ein Geier. Die Wanduhr tickte Sekunde um Sekunde herunter. Draußen, tief über der Straße, hingen dicke weiße Wolken, die noch immer nach Winter aussahen. Ich beobachtete, wie ein Regentropfen vor dem Fenster niederfiel und dann, zu Eis erstarrt, auf dem Gehsteig landete. Meine Gedanken schweiften von meiner abgenutzten Gitarre zu dem Mandelstam-Band, der vor mir auf der Ladentheke lag. ( »Man gab mir einen Körper – was fang ich mit ihm an, mit diesem einen, der mein ist so ganz?«) Schließlich beugte ich mich vor und drückte auf die »Play« -Taste der Stereoanlage unter der Theke und über uns erklang wieder Musik.
    »In der Nähe unseres Hauses treiben sich Wölfe rum«, sagte Isabel. Sie ließ den Tee im Becher kreisen. »Das Zeug schmeckt wie Heu.«
    »Ist aber gesund«, erwiderte ich. Plötzlich wünschte ich, sie hätte mir nicht meinen Tee geklaut; er war für mich wie ein Rettungsanker in diesem kalten Wetter. Zwar brauchte ich keinen mehr, aber mit dem warmen Becher in der Hand fühlte ich mich einfach sicherer in meiner menschlichen Haut. »Wie nah bei eurem Haus?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kann sie vom zweiten Stock aus im Wald sehen. Offensichtlich verfügen sie über keinerlei natürlichen Schutzinstinkt, sonst würden sie meinem Vater aus dem Weg gehen. Der ist ja nun bekanntlich nicht ihr größter Fan.« Ihr Blick wanderte zu der unregelmäßigen Narbe an meinem Hals.
    »Was du nicht sagst«, entgegnete ich. Isabel selbst hatte auch nicht gerade Grund, ein Fan von uns zu sein. »Falls dir einer von ihnen als Mensch über den Weg laufen sollte, sag mir Bescheid, ja? Und zwar bevor dein Dad ihn ausgestopft in seiner Menagerie aufgestellt hat, okay?« Um meinen Worten ein bisschen die Schärfe zu nehmen, sprach ich »Menagerie« übertrieben französisch aus.
    Isabel warf mir einen so finsteren Blick zu, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn ich zu Stein erstarrt wäre. »Wo wir gerade von Menagerien sprechen«, gab sie zurück, »wohnst du jetzt ganz allein in diesem riesigen Haus?«
    Nein, ich wohnte nicht dort. Ein Teil von mir wusste zwar, dass es nun an mir gewesen wäre, Becks Platz einzunehmen und die Rudelmitglieder zu empfangen, wenn sie nach dem Winter wieder ihre menschliche Gestalt annahmen; es wäre an mir gewesen, nach den vier neuen Wölfen Ausschau zu halten, die sich bald zurückverwandeln würden. Doch ein anderer Teil von mir hasste die Vorstellung, in diesem Haus herumzugeistern, ohne die geringste Hoffnung, Beck jemals wiederzusehen.
    Außerdem war das nicht mein Zuhause. Mein Zuhause war Grace.
    »Ja«, beantwortete ich Isabels Frage.
    »Lügner«, sagte sie mit einem wissenden Lächeln. »Grace ist tausendmal besser im Lügen als du. Und jetzt sag mir mal, wo ihr hier die Medizinbücher habt. Guck nicht so überrascht – ich bin bestimmt nicht zu meinem Vergnügen
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