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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht
Autoren: Maggie Stiefvater
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und nicht beim Kaffeekränzchen.«
    Grace sah ihn ernst an. »Bitte, könnte ich zur Krankenschwester gehen? Mein Kopf – ich glaub, ich krieg vielleicht ’ne Grippe oder so.«
    Mr Grant betrachtete ihre glühenden Wangen und ihr aufrichtiges Gesicht und nickte schließlich. »Sie soll dir aber eine Bescheinigung geben«, verlangte er, nachdem Grace Danke gesagt hatte und aufgestanden war. Zu mir sagte sie nichts mehr, sondern klopfte nur zum Abschied mit den Fingerknöcheln gegen meine Stuhllehne.
    »Und du –«, wandte Mr Grant sich an mich. Dann sah er mein Lexikon und die Seite, die ich immer noch aufgeschlagen hatte, und beendete seinen Satz nicht. Er runzelte bloß die Stirn und ließ mich in Ruhe.
    Ich widmete mich wieder meinen außerschulischen Studien zum Thema Tod und Krankheit. Denn egal, was Grace glaubte – hier in Mercy Falls war es nie vorbei.

KAPITEL 4
GRACE
    Als Sam an diesem Abend aus dem Buchladen nach Hause kam, saß ich am Küchentisch und fasste gute Vorsätze fürs neue Jahr.
    Seit ich neun war, machte ich das jedes Jahr so. Immer am ersten Weihnachtsfeiertag hockte ich mich im dicken Rollkragenpulli – weil es von der Glastür zur Veranda immer so zog – an den Küchentisch ins schummrige gelbe Licht der Deckenlampe und schrieb meine Ziele für das nächste Jahr in ein schlichtes schwarzes Notizbuch, das ich mir eigens dafür gekauft hatte. Und jedes Jahr an Heiligabend setzte ich mich an genau denselben Platz und schlug eine neue Seite in genau demselben Buch auf, um festzuhalten, was davon ich in den letzten zwölf Monaten geschafft hatte. Die beiden Listen waren jedes Mal identisch.
    Letztes Weihnachten allerdings hatte ich keinen einzigen Vorsatz gefasst. Ich hatte den gesamten Monat damit verbracht, möglichst nicht durch die Glastür hinaus auf den Wald zu starren, und versucht, nicht an die Wölfe und an Sam zu denken. Mich an den Küchentisch zu setzen und meine Zukunft zu planen, hätte sich wie reine Selbsttäuschung angefühlt.
    Aber jetzt, da ich Sam wieder- und ein neues Jahr vor mir hatte, spukte mir das schwarze Notizbuch, das ich im Bücherregal ordentlich neben meinen Berufsratgebern und den Biografien eingereiht hatte, andauernd durch den Kopf. Manchmal träumte ich sogar davon, dass ich im Rollkragenpulli am Küchentisch saß; ich träumte, dass ich schrieb und schrieb, doch die Seite wurde einfach nicht voll.
    Als ich an diesem Tag darauf wartete, dass Sam nach Hause kam, hielt ich es plötzlich nicht mehr aus. Ich zog das Notizbuch aus dem Regal und ging in die Küche. Bevor ich mich setzte, nahm ich noch zwei Ibuprofen. Die beiden, die die Krankenschwester mir in der Schule gegeben hatte, hatten meine Kopfschmerzen zwar mehr oder weniger beseitigt, aber ich wollte sichergehen, dass sie nicht doch wiederkamen. Gerade als ich die blütenförmige Lampe über dem Tisch eingeschaltet und meinen Bleistift gespitzt hatte, klingelte das Telefon. Ich stand auf und langte über den Küchentresen, um dranzukommen.
    »Hallo?«
    »Grace, hallo.« Ich brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, dass es mein Vater war. Es war ungewohnt, seine Stimme am Telefon zu hören, so gepresst und verzerrt.
    »Stimmt was nicht?«, fragte ich.
    »Was? Nein. Alles in Ordnung. Ich rufe nur an, weil ich Bescheid sagen wollte, dass deine Mom und ich noch bei Pat und Tina sind. Um neun sind wir aber wieder zu Hause.«
    »Okaaay« ,sagte ich. Das hatte ich schon gewusst; Mom hatte mir morgens genau dasselbe erzählt, als wir aufbrachen – ich zur Schule, sie in ihr Atelier.
    Pause. »Bist du allein?«
    Aha, daher wehte also der Wind. Aus irgendeinem Grund schnürte sich mir bei dieser Frage die Kehle zu. »Nein«, entgegnete ich. »Elvis ist hier. Willst du ihn mal sprechen?«
    Dad ignorierte meine Antwort. »Ist Sam bei dir?«
    Ich hatte große Lust, das mit Ja zu beantworten, nur um zu hören, wie er reagierte. Aber ich sagte die Wahrheit und meine Stimme klang merkwürdig und defensiv. »Nein. Ich mache Hausaufgaben.«
    Meine Eltern wussten, dass Sam und ich zusammen waren – wir hatten kein Geheimnis aus unserer Beziehung gemacht –, aber im Grunde hatten sie keine Ahnung. Sie dachten, ich läge jede Nacht allein in meinem Bett, dabei schlief Sam bei mir. Sie wussten nichts darüber, wie ich mir unsere Zukunft ausmalte. Sie dachten, es wäre einfach eine harmlose Teenieromanze, die irgendwann sowieso zu Ende gehen würde. Dabei wollte ich es gar nicht vor ihnen geheim halten. Aber fürs
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