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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht
Autoren: Maggie Stiefvater
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zu werden.
    »Wie bitte?«
    »Olivias Familie sagte, dass sie oft die Wölfe im Wald fotografiert hat und dass Grace sich ebenfalls für sie interessiert. Trifft das auf Sie auch zu?«
    Ich konnte nur wortlos nicken.
    »Könnten Sie sich vorstellen, dass sie irgendwo da draußen ist und nicht in einer anderen Stadt?«
    Panik krallte sich in mein Bewusstsein bei dem Gedanken daran, wie die Polizei und Olivias Familie den Wald Hektar für Hektar durchkämmten, das Unterholz und die kleine Hütte des Rudels nach menschlichen Spuren absuchten. Und vermutlich welche fanden. Ich versuchte, meine Stimme locker klingen zu lassen. »Ich hatte eigentlich nie das Gefühl, dass Olivia der Campingtyp war. Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.«
    Koenig nickte vor sich hin. »Na ja, danke noch mal«, sagte er.
    »Keine Ursache«, winkte ich ab. »Und viel Glück.«
    Die Tür fiel hinter ihm zu, und sobald ich sah, wie sein Streifenwagen aus der Parkbucht fuhr, ließ ich die Ellbogen auf die Theke sinken und vergrub meinen Kopf in den Händen. Mann.
    »Gar nicht schlecht, du Wunderknabe«, sagte Isabel, die plötzlich wieder hinter dem Regal mit den Sachbüchern auftauchte. »Du hast fast überhaupt nicht psychotisch geklungen.«
    Ich antwortete nicht. Alle möglichen Fragen, die der Polizist noch hätte stellen können, rasten mir durch den Kopf. Ich war fast noch nervöser als vorhin, als er hier gewesen war. Er hätte fragen können, wo Beck sei. Oder ob ich von den drei vermissten Jugendlichen in Kanada gehört hätte. Oder ob ich irgendetwas über den Tod von Isabel Culpepers Bruder wisse.
    »Was hast du denn jetzt wieder?«, wollte Isabel wissen, die auf einmal vor mir stand. Sie knallte einen Stapel Bücher auf den Tresen und legte ihre Kreditkarte obendrauf. »Du hast das doch total locker durchgezogen. Das ist alles nur Routine. Der verdächtigt niemanden. Mensch, deine Hände zittern ja.«
    »Ich würde echt einen ziemlich armseligen Verbrecher abgeben«, stöhnte ich – doch das war nicht der Grund, warum mir die Hände zitterten. Wenn Grace hier gewesen wäre, hätte ich ihr die Wahrheit gesagt: dass ich mit keinem Polizisten mehr gesprochen hatte, seit meine Eltern ins Gefängnis gekommen waren, weil sie mir die Pulsadern aufgeschnitten hatten. Officer Koenig nur zu sehen, hatte tausend Dinge in mir wieder hochkommen lassen, an die ich seit Jahren nicht mehr gedacht hatte.
    Isabels Stimme triefte vor Geringschätzung. »Na, dann ist doch alles in Ordnung. Du hast ja schließlich auch nichts verbrochen. Und jetzt krieg dich wieder ein und mach deinen Bücherwurmjob. Ich brauche eine Quittung.«
    Ich tippte alles in die Kasse ein und packte die Bücher in eine Tüte. Dabei sah ich immer wieder auf die leere Straße hinaus. In meinem Kopf tobte ein Chaos aus Polizeiuniformen, Wölfen im Wald und Stimmen, die ich seit zehn Jahren nicht mehr gehört hatte.
    Als ich ihr die Tüte reichte, fühlte ich in den alten Narben an meinen Handgelenken lang begrabene Erinnerungen pochen.
    Einen Augenblick lang schien es, als wollte Isabel noch etwas sagen, doch dann schüttelte sie den Kopf und sagte bloß: »Manche Leute sind einfach zu ehrlich für diese Welt. Bis dann, Sam.«

KAPITEL 2
COLE
    Ich hatte nur einen Gedanken: Überleben. Und nur diesen einen Gedanken zu haben, Tag für Tag, war geradezu paradiesisch.
    Wir Wölfe rannten zwischen spärlichen Kiefern hindurch, unsere Pfoten berührten kaum den Boden, dessen Feuchtigkeit noch von frisch geschmolzenem Schnee zeugte. Wir liefen so dicht gedrängt, dass sich unsere Schultern berührten, wir schnappten spielerisch in die Luft, wir sprangen und tauchten durcheinander wie ein Schwarm Fische im Fluss, kaum zu erkennen, wo der eine anfing und der andere aufhörte.
    Das zertrampelte Moos und die Markierungen an den Bäumen wiesen uns den Weg durch den Wald; ich witterte den modrigen, lebendigen Geruch des Sees schon, bevor ich das Wasser plätschern hörte. Einer der Wölfe sandte ein flüchtiges Bild: Enten, die ruhig über die kalte blaue Wasseroberfläche glitten. Ein anderer das einer Hirschkuh mit ihrem Kalb, das auf sie zustakste, um zu trinken.
    Für mich gab es nichts als diesen Augenblick, diese Bilder, die wir teilten, und die stille, machtvolle Bindung zwischen uns.
    Und dann, zum ersten Mal seit Monaten, erinnerte ich mich plötzlich daran, dass ich einmal Finger gehabt hatte.
    Ich strauchelte, blieb hinter dem Rudel zurück, meine Schultern bebten und krümmten
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