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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht
Autoren: Maggie Stiefvater
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PROLOG
GRACE
    Dies ist die Geschichte eines Jungen, der ein Wolf war, und eines Mädchens, das zu einem wurde.
    Vor wenigen Monaten noch war Sam die Sagengestalt. Er war derjenige mit der unheilbaren Krankheit. Es war sein Abschied, der am meisten schmerzte. Sein Körper war ein Rätsel – zu fremd, zu fantastisch und zu entsetzlich, um es zu verstehen.
    Aber jetzt ist Frühling. Es wird wärmer und die übrigen Wölfe tauschen ihre Pelze gegen ihre menschliche Gestalt. Sam bleibt Sam und Cole bleibt Cole und ich bin die Einzige, die nicht fest in ihrer Haut steckt.
    Letztes Jahr hätte ich genau das gewollt. Damals gab es viele Gründe, warum ich mich danach sehnte, zu dem Wolfsrudel zu gehören, das im Wald hinter unserem Haus lebt. Aber jetzt beobachte nicht mehr ich die Wölfe und warte darauf, dass einer von ihnen zu mir kommt. Heute sind sie es, die mich beobachten und auf mich warten.
    Ihre Augen, Menschenaugen in Wolfsschädeln, erinnern mich an Wasser: das klare Blau von Wasser, in dem sich der Frühlingshimmel spiegelt, das Braun eines wild schäumenden Baches nach dem Regen, das Grün des Sees im Sommer während der Algenblüte, das Grau eines schneeerstickten Flusses. Früher waren es nur Sams gelbe Augen, die mich aus dem Dickicht der regendurchnässten Birken beobachteten, heute lasten die Blicke des ganzen Rudels auf mir – schwer wie Dinge, die wir wissen und über die wir nicht sprechen.
    Die Wölfe im Wald sind Fremde für mich, selbst jetzt, da ich das Geheimnis des Rudels kenne. Sie sind schön, faszinierend, aber sie bleiben Fremde. Eine unbekannte menschliche Vergangenheit verbirgt sich hinter jedem dieser Augenpaare. Sam ist der Einzige, den ich je wirklich kannte, und jetzt ist er bei mir. Das ist alles, was ich will. Meine Hand in seiner, seine Wange, die an meinem Hals ruht.
    Aber mein Körper lässt mich im Stich. Nun werde ich zur Fremden, für alle anderen ungewiss.
    Dies ist eine Geschichte über Liebe. Ich wusste nicht, dass es so viele Arten von Liebe gibt, und auch nicht, was Menschen aus Liebe alles tun.
    Ich wusste nicht, dass es so viele Arten des Abschieds gibt.

KAPITEL 1
SAM
    Mercy Falls, Minnesota, sah vollkommen anders aus, wenn man wusste, dass man für den Rest seines Lebens ein Mensch sein würde. Vorher hatte dieser Ort für mich nur in der Hitze des Sommers existiert, mit seinen Gehwegen aus Beton, den Blättern, die sich der Sonne entgegenstreckten, und über allem der Geruch nach warmem Asphalt und Lastwagenabgasen.
    Doch nun, als sich an den kahlen Zweigen rare Knospen zeigten, wusste ich, dass ich hierhergehörte.
    Die Monate, seit mein Wolfspelz verschwunden war, hatte ich damit verbracht zu lernen, wieder ein ganz normaler Junge zu sein. Ich arbeitete wieder im Crooked Shelf, umgeben von neuen Wörtern und dem Rascheln von Buchseiten. Meinen geerbten Geländewagen voller Gerüche, die mich an Beck und mein altes Leben mit den Wölfen erinnerten, hatte ich gegen einen VW Golf eingetauscht, gerade groß genug für mich und Grace und meine Gitarre. Ich versuchte, nicht jedes Mal zusammenzuzucken, wenn sich irgendwo eine Tür öffnete und ein kalter Luftzug hereindrang. Ich versuchte, mir bewusst zu machen, dass ich nicht mehr allein war. Nachts, wenn Grace und ich uns in ihr Zimmer geschlichen hatten, schmiegte ich mich an sie und atmete den Geruch meines neuen Lebens ein, bis mein Herz im Gleichklang mit ihrem schlug.
    Und wenn der Wind das schwermütige Heulen der Wölfe zu uns herübertrug und mir die Brust eng wurde, tröstete mich der Gedanke an ein ganz normales Leben. Ich freute mich auf die vielen Weihnachtsfeste mit diesem Mädchen in meinem Arm und darauf, alt zu werden in dieser Haut, die mir noch so fremd war. Ich hatte alles. Dessen war ich mir bewusst.
     
    Gift of time in me enclosed
    the future suddenly exposed
     
    Ich hatte mir angewöhnt, meine Gitarre mit in den Buchladen zu nehmen. Das Geschäft lief nicht gut und so vergingen Stunden, ohne dass jemand hörte, wie ich den Bücherregalen an den Wänden meine Lieder vorsang. Das kleine Notizbuch, das Grace mir gekauft hatte, füllte sich nach und nach mit Worten. Jedes neue Datum, das ich an den Kopf einer Seite schreiben konnte, war wie ein Triumph über den schwindenden Winter.
    Heute war ein Tag wie schon viele andere zuvor: nasse, morgendlich leere Straßen, die auf die ersten Kunden warteten. Ich sah überrascht auf, als, nicht lange nachdem ich den Laden geöffnet hatte, die Tür aufging und
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