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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht
Autoren: Maggie Stiefvater
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war und mir Fragen stellte. Was mich aber seltsamerweise noch viel nervöser machte, war die Tatsache, dass Isabel, die ja die Wahrheit kannte, uns zuhörte. Ich konnte sie beinahe vor mir sehen, wie sie hinter einem der Regale kauerte und voller Verachtung eine Augenbraue hochzog, wenn mir eine schlechte Lüge über die ungeübten Lippen holperte.
    »Sie kannten sie, ist das korrekt?« Der Officer blickte mich freundlich an, aber wie freundlich konnte jemand schon sein, der eine Frage mit »ist das korrekt« beendete?
    »Nur flüchtig«, antwortete ich. »Ich hab sie ein paarmal in der Stadt getroffen. Aber ich gehe nicht auf ihre Schule.«
    »Auf welche Schule gehen Sie denn?« Auch diese Frage stellte Officer Koenig in freundlichem Plauderton. Ich versuchte mir einzureden, dass seine Fragen in meinen Ohren nur deshalb argwöhnisch klangen, weil ich ja tatsächlich etwas zu verbergen hatte.
    »Ich wurde zu Hause unterrichtet.«
    »Ach, meine Schwester auch«, sagte Koenig. »Hat meine Mutter in den Wahnsinn getrieben. Aber Grace Brisbane kennen Sie, ist das korrekt?«
    Schon wieder dieses »ist das korrekt«. Ob er wohl immer mit den Fragen anfing, deren Antworten er sowieso schon kannte? Wieder musste ich an Isabel denken, die reglos irgendwo stand und lauschte.
    »Ja«, erwiderte ich. »Sie ist meine Freundin.«
    Das war ein Detail, das ihm vermutlich neu war und ich ihm auch gar nicht hätte verraten müssen. Aber aus irgendeinem Grund wollte ich, dass Isabel es hörte.
    Ich war überrascht, als Koenig anfing zu lächeln. »Ach«, sagte er.
    Sein Lächeln wirkte echt, aber die Anspannung in meinen Schultern ließ nicht nach. Ich überlegte, ob er irgendein Spielchen mit mir trieb.
    »Grace und Olivia waren ja ziemlich gut befreundet«, redete Koenig weiter. »Können Sie mir sagen, wann Sie Olivia zum letzten Mal gesehen haben? Ich muss nicht den exakten Tag wissen, aber je genauer Sie sich erinnern, desto besser.«
    Er hatte jetzt ein kleines blaues Notizbuch gezückt und einen Kugelschreiber in der Hand.
    »Ähm …« Ich überlegte. Ich hatte Olivia gerade vor ein paar Wochen noch gesehen, ihr helles Fell war mit Schnee bestäubt gewesen, aber das sollte ich Officer Koenig wohl besser nicht erzählen. »Ich hab sie in der Stadt gesehen. Hier, um genau zu sein. Vor dem Laden. Grace und ich waren ein bisschen bummeln und Olivia war mit ihrem Bruder unterwegs. Aber das muss schon Monate her sein. November, Oktober oder so. Kurz bevor sie verschwunden ist.«
    »Glauben Sie, dass Grace sie in letzter Zeit gesehen hat?«
    Ich versuchte, seinem Blick standzuhalten. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Grace sie an dem Tag auch zum letzten Mal gesehen hat.«
    »Es ist nicht leicht für einen Teenager, sich allein durchzuschlagen, wissen Sie«, sagte Koenig und diesmal hatte ich das sichere Gefühl, dass er alles über mich wusste und dass seine Worte nur für mich bestimmt waren, der ich allein ohne Beck zurechtkommen musste. »Ausreißen ist nicht so leicht, wie es sich anhört. Jugendliche laufen aus den verschiedensten Gründen von zu Hause weg und aus dem, was ich von Olivias Lehrern und ihrer Familie gehört habe, würde ich schließen, dass in ihrem Fall vielleicht Depressionen eine Rolle spielen. Oft laufen Jugendliche nur weg, weil sie einfach mal rausmüssen. Ohne zu wissen, wie man alleine klarkommt in der Welt. Darum flüchten viele nur ein paar Häuser weiter. Manchmal –«
    Ich unterbrach ihn, bevor er weitersprechen konnte. »Officer … Koenig? Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, aber Olivia ist nicht bei Grace. Grace schmuggelt kein Essen für sie aus dem Haus oder kümmert sich sonst irgendwie um sie. Ich wünschte mir für Olivia, die Antwort wäre so einfach. Genauso wie für Grace. Ich würde Ihnen wirklich gern sagen, dass ich weiß, wo Olivia ist. Aber wir fragen uns genauso wie Sie, wann sie wohl zurückkommt.«
    Ich überlegte kurz, ob Grace’ beste Lügen vielleicht genau so funktionierten – indem sie die Geschichte einfach so hinbog, dass sie sie selbst glauben konnte.
    »Sie verstehen sicherlich, dass ich trotzdem fragen muss«, erklärte der Officer.
    »Ja, ich weiß.«
    »Tja, dann vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Und falls Sie etwas hören, lassen Sie es mich wissen, ja?« Koenig wollte sich gerade umdrehen, zögerte dann aber. »Was ist mit dem Wald?«
    Ich war wie erstarrt. Ich war ein Wolf, der sich reglos zwischen den Bäumen verbarg und hoffte, nicht entdeckt
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