Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
die Augenbrauen zusammen. »Aber diese Vorstellung, eine Zukunft zu haben, ist eben vollkommen neu für mich. Bis vor einem Monat wäre ich noch nicht mal auf die Idee gekommen, dass ich aufs College gehen könnte. Ich will da nichts überstürzen.«
    Ich musste ihn ziemlich entgeistert angestarrt haben, denn er beeilte sich hinzuzufügen: »Aber ich will natürlich auch nicht, dass du warten musst, Grace. Ich will dich von nichts abhalten, nur weil ich mich nicht entscheiden kann.«
    »Wir könnten ja zusammen irgendwo hingehen«, sagte ich und kam mir kindisch dabei vor.
    Der Teekessel pfiff. Sam zog ihn von der Herdplatte und erwiderte: »Ich wage zu bezweifeln, dass ein und dasselbe College ideal für ein aufstrebendes Mathegenie und einen Jungen mit einer Vorliebe für schwermütige Lyrik ist. Aber wer weiß.« Er starrte aus dem Küchenfenster in den grauen, frostigen Wald. »Ich weiß aber auch gar nicht, ob ich überhaupt hier wegkann. Wer soll sich denn dann um das Rudel kümmern?«
    »Ich dachte, dafür sind die neuen Wölfe erschaffen worden«, entgegnete ich. Es klang seltsam, sobald ich es ausgesprochen hatte. Unsensibel. Als wäre die Dynamik des Rudels etwas Künstliches, von außen Gesteuertes, was selbstverständlich gar nicht so war. Niemand wusste, wie die Neuen waren. Niemand außer Beck natürlich, aber der konnte es einem ja nicht sagen.
    Sam rieb sich über die Stirn und presste sich die Handfläche vor die Augen. Das machte er oft, seit er zurück war. »Ja, ich weiß«, sagte er. »Ich weiß, dass sie dazu da sind.«
    »Beck hätte gewollt, dass du gehst«, meinte ich. »Und ich glaube schon, dass wir gemeinsam ein College finden können.«
    Sam sah mich an, die Finger immer noch an die Schläfen gepresst, als hätte er sie dort vergessen. »Das wäre schön.« Er stockte. »Trotzdem würde ich gern – ich würde gern die neuen Wölfe kennenlernen, einfach um zu sehen, wie sie so sind. Ich glaube, dann würde ich mich besser fühlen. Danach kann ich vielleicht gehen. Wenn ich sicher bin, dass sich hier jemand um alles kümmert.«
    Ich strich »Mich für ein College entscheiden« mit einer Schlängellinie durch. »Ich warte auf dich«, sagte ich.
    »Aber nicht ewig«, erwiderte Sam.
    »Nein, wenn sich herausstellt, dass du ein totaler Nichtsnutz bist, gehe ich ohne dich.« Ich tippte mir mit dem Bleistift gegen die Zähne. »Ich finde, wir sollten uns morgen mal nach den neuen Wölfen umsehen. Und nach Olivia. Ich rufe Isabel an und frage sie noch mal wegen der Wölfe, die sie im Wald hinter ihrem Haus gesehen hat.«
    »Na, das ist doch mal ein Plan«, stimmte Sam zu. Er kam zurück an den Tisch und notierte noch etwas auf seiner Liste. Dann lächelte er mich an und drehte die Karteikarte so, dass ich es lesen konnte. Auf Grace hören.
SAM
    Später fiel mir noch einiges mehr ein, das ich auf die Liste mit den Vorsätzen hätte schreiben können. Dinge, die ich mir früher mal gewünscht hatte, bevor mir klar wurde, was es für meine Zukunft bedeutete, ein Wolf zu sein. Dinge wie Ein Buch schreiben und Eine Band gründen und Meinen Abschluss in Übersetzung unbekannter Lyrik machen und Auf Weltreise gehen. Ich kam mir extravagant und vollkommen maßlos dabei vor, jetzt über diese Ideen nachzudenken, nachdem ich mich so lange immer wieder hatte ermahnen müssen, dass sie unmöglich umzusetzen waren.
    Ich versuchte, mir mich dabei vorzustellen, wie ich eine Collegebewerbung ausfüllte. Wie ich ein Exposé für einen Roman entwarf. Wie ich einen Zettel mit der Aufschrift SCHLAGZEUGER GE-SUCHT an die Pinnwand gegenüber von Becks Postfach heftete. Die Worte tanzten durch meinen Kopf, sie schienen plötzlich so verwirrend greifbar. Ich wollte sie auf meine Karteikarte mit den Vorsätzen schreiben, aber ich … konnte es einfach nicht.
    An diesem Abend, als Grace unter der Dusche stand, holte ich die Karte hervor und sah sie mir noch einmal an. Und ich schrieb:
    Daran glauben, dass ich geheilt bin.

KAPITEL 5
COLE
    Ich war ein Mensch. Ich war benommen, erschöpft, verwirrt. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Mir wurde klar, dass einige Zeit vergangen sein musste, seit ich das letzte Mal wach gewesen war. Ich musste mich wieder in einen Wolf zurückverwandelt haben. Stöhnend rollte ich mich auf den Rücken, ballte die Fäuste und öffnete sie wieder, testete meine Muskeln.
    Es war eiskalt in dem frühmorgendlichen Wald, Nebel hing in der Luft und verwandelte alles in bleiches Gold. Nicht weit von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher