Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rotes Meer

Rotes Meer

Titel: Rotes Meer
Autoren: Åke Edwardson
Vom Netzwerk:
»Der Laden schien leer zu sein. Man sieht ja alles, wenn man näher kommt.« Er zeigte auf das dreißig Meter entfernte Gebäude. »Der besteht ja fast nur aus Fenstern.«
    »Aber Sie haben niemanden gesehen?«
    »Nein.«
    »Und wann haben Sie jemanden gesehen?«
    »Als … als ich den Laden betrat. Oder als ich in der Tür stand … ich erinnere mich nicht genau. Ich bin ja gar nicht ganz reingegangen.«
    »Was haben Sie gesehen?«
    »Den, der mitten im Raum lag.«
    Winter nickte.
    »Und Blut.«
    Wieder nickte Winter.
    »Ich hab … ich hab …« Reinholz verstummte. Winter sah den Schock in seinen Augen, seinem Gesicht, seinem Körper. Sie hatten den Mann lange genug festgehalten. Jetzt durfte er den Ort verlassen. Er musste mit jemandem reden, aber nicht mit einem Kriminalkommissar.
    »Haben Sie noch jemanden gesehen?«, fragte Winter.
    Reinholz schüttelte den Kopf.
    Winter wartete.
    »Vielleicht einen … Arm«, sagte Reinholz nach einer Weile. »Oder ein Bein.«
    »Stand noch ein weiteres Auto hier, als Sie parkten?«
    »Nein, ich war allein. Es waren einige Autos unterwegs, aber Autos sind ja immer unterwegs. Falls Sie verstehen, was ich meine.«
    »Ja«, antwortete Winter. »Haben Sie was gehört?«
    Reinholz schien etwas in weiter Ferne zu studieren, als hätte er etwas oder jemanden entdeckt. Winter drehte sich um, aber da war nichts, was er nicht schon vorher gesehen hatte.
    »Ich meine, was gehört zu haben«, sagte Reinholz. Seine Stimme klang jetzt ruhiger, sicherer. Als hätte er tief Luft geholt und den Puls runtergedrückt. »Da war was.«
    Winter wartete.
    »Schritte«, fuhr Reinholz fort. »Das Geräusch von Schritten. Als würde jemand laufen. Aber es waren … leichte Schritte.«
    »Wann haben Sie die gehört?«
    »Als ich da vorn … als ich an der Tür war.«
    »Schritte?«
    »Irgendwie von der Rückseite. Als würde jemand weglaufen. Ich kann mich leider nicht erinnern. Ich hab sie gehört, als … als ich das … da sah.« Er begegnete Winters Blick. »Leichte Schritte.«

3
    F ür ihn war es relativ unbekanntes Terrain, als wäre er fremd in seiner eigenen Stadt. Manchmal fühle ich mich sehr fremd, dachte er. Hier wird dieser Eindruck noch verstärkt von all den Fremden. Ich bin auch ein Fremder. Verdammt noch mal, wir sind alle Fremde. Ich bin ein Fremder und die anderen da sind Flüchtlinge. Vor langer Zeit sind sie in dieses Land geflohen, das schließlich ihr Land wurde, vielleicht vor einer Generation. Unfreiwillige Wallfahrer. Kann man sie so nennen? Wer würde sich schon dafür entscheiden, zu diesem arktischen Außenposten hinaufzuwandern, wenn er die Wahl hätte? Eine wirkliche und anständige Wahl. Schweden ist eins der acht sogenannten arktischen Länder der Welt. Mehr gibt es nicht. Auf diese Stadt am Eismeer scheint im Augenblick die Sonne, aber sonst herrscht Dunkelheit. Regen. Wind.
    Im Moment spürte Winter keinen Wind. Er stand immer noch vor dem Laden, der aussah wie ein kleiner Glaspalast, ein kleiner Tempel aus Licht, der die Sonnenstrahlen wie ein Prisma brach. Ihm taten plötzlich die Augen weh. Er setzte sich die Sonnenbrille auf, und die Bäume auf der anderen Seite des Hjällbovägen verloren ihre Farben.
    Ringmar kam aus dem Laden und stellte sich neben Winter.
    »Pia ist bald fertig«, sagte er.
    Die Gerichtsmedizinerin, Pia Fröberg, arbeitete schon fast zehn Jahre mit Winter zusammen. Sie hatten ungefähr gleichzeitig angefangen, beide noch lächerlich jung. Sie hatten ein kurzes Verhältnis miteinander gehabt, zu einer Zeit, als Winter, wenn er am Ende des Arbeitstages – oder am Ende der Arbeitsnacht – das Polizeipräsidium durch den Haupteingang verließ, noch keine Ahnung gehabt hatte, in welche Richtung sein Leben gehen sollte. Aber das war jetzt alles vorbei, vergessen und vergeben, nur noch Bruchstücke der Erinnerung an Obduktionen in diesem blauen Licht, Untersuchungen bei starkem Licht, bei Sonnenlicht, Regen, Tag, Nacht, Abend, von der Morgen- bis zur Abenddämmerung. Tot, immer tot. Körper, die ihre letzte Wanderung angetreten hatten. Häufig hatte Winter beim Anblick der Toten an die Kleidung gedacht, die sie am selben Tag ausgewählt hatten, am selben Morgen, ihrem letzten Morgen. Es war das letzte Mal, dass sie diesen Pullover, dieses Hemd, die Hose, den Rock angezogen hatten. Die Schuhe. Wer dachte an ein solches letztes Mal, während er sich anzog? Nur der, der auf dem Weg zu seiner eigenen Hinrichtung war.
    »Sieht aus wie eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher