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Roter Staub

Roter Staub

Titel: Roter Staub
Autoren: Paul J. McAuley
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Horizont
über die stecknadelkopfgroße Scheibe der Sonne stieg, gab
es einen kurzen blauen Blitz, ein dünner Ring, der um den halben
Horizont lief. Xiao Bing stand auf und grüßte den
Doppelstern von Erde und ihrem Mond, jetzt jäh sichtbar. Einen
Augenblick später waren die beiden ebenfalls untergegangen.

 
     

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3
     

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    Lee und Xiao Bing dösten neben dem erlöschenden Feuer,
als Guoquiang zurückkehrte. Er war davongegangen, um die mit
Pheromon als Köder ausgestatteten Fallen für junge
Füchse und rote Mungos einzusammeln; jetzt rutschte er den
zerrissenen Hang des Kraterrands mit einem lauten Geklapper
herab.
    »Ku li«, flüsterte er wild, eine Hand auf
Lees Schulter, die andere auf Xiao Bings. Feuerschein traf sein
Gesicht unterhalb des Kinns und formte seine Augen zu schattigen
Halbmonden. »Ich habe Spuren gesehen, einen halben Kilometer
südwestlich. Von Pferden, glaube ich.«
    »Bist du dir sicher?«
    »Woher weißt du, daß es Ku li sind?«
    »Das Feuer«, sagte Guoquiang und trat Staub hinein.
Funken wirbelten hoch in die Luft, und Guoquiang ächzte vor
Enttäuschung und trat fester: weitere Funken flogen.
    »Wenn es Ku li sind«, sagte Lee, »werden sie
jetzt mit Sicherheit wissen, wo wir sind. Warte,
nicht…«
    Aber Guoquiang wand Lee den großen Wasserbeutel aus dem
Griff, drehte ihn um und öffnete ihn über den zerstreuten
Scheiten des Feuers. Es ertönte ein Zischen, und es roch nach
heißem Schlamm: dann befanden sie sich in Dunkelheit.
    »Das«, bemerkte Xiao Bing, »war der
größte Teil des Wassers, das wir haben.«
    Guoquiang sagte aus der Dunkelheit heraus: »Ku li, ich schwöre es. Spuren von drei verschiedenen
Pferden.«
    Lee sagte: »Dann eben Cowboys. Ich habe sie oft gesehen;
niemals einen der legendären Ku li.«
    »Sprich nicht so laut!«
    »Du bist es doch, der redet…«
    »Ruhe!«
    Ihre Stimmen hallten hinaus in die gewaltige
sternenübersäte Stille der Wüstennacht.
    »Ich habe gedacht, sie wären zu Beginn des Winters in
die Polarsümpfe zurückgeschlagen worden«,
flüsterte Xiao Bing. Aber in seiner Stimme lag ein Zittern: er
war der cleverste der drei, und vielleicht stellte er sich vor, wie
die Ku li-Rebellen die Greueltaten, die sie, Gerüchten
zufolge, an ihren Gefangenen begingen, an ihm begingen.
    »Selbst ich glaube nicht an all die prahlerischen
Behauptungen der loyalen und starken
Sprachrohr-des-Volkes-Armee«, sagte Guoquiang in einem heiseren
Flüstern. »Horcht! Was war das?«
    Lee hörte das Rascheln und lächelte in die Dunkelheit.
Er konnte im Sternenlicht so gerade eben die Gestalten der anderen
beiden ausmachen. Er sagte: »Eine Maus, die deinen Pilzeintopf
auffrißt, Guoquiang. Wenn die Ku li Pferde haben,
sollten wir sie leicht hören können.«
    Es folgte ein Schweigen, und dann flüsterte Xiao Bing:
»Sie dämpfen den Hufschlag mit Lumpen.«

 
     

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4
     

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    Lee übernahm die erste Wache. Er hockte auf einer Garbe
frostzersplitterten Felses am Kraterrand, eine Steppdecke um die
Schultern, Bewegungssensor, Infrarotskop und Pistole bei der Hand,
das Radio in den Ohren. Er war zu weit von Bitterwasser entfernt, um
Zugriff auf den Bibliothekar zu nehmen. Seine Mutter und sein Vater,
irgendwo dort draußen. Er würde nicht glauben, daß
sie tot waren. Ins Exil getrieben, ja. Fast sicher in
Strafarbeitstrupps. Eine der Phantasien seiner Kindheit war gewesen,
daß sie sich den Ku li angeschlossen hätten,
daß sie eines Tages zurückkehren würden und die hohen
Wände von Meister Qings Akademie der Mentalen Kultivierung
erklettern und ihn mitnehmen würden…
    Statt dessen war er gegangen, nach ihnen zu suchen.
    Er glaubte nicht einen Augenblick lang, daß die Ku li so weit südlich vorgedrungen wären. Zweifelsohne hatte
Guoquiang Spuren gesehen, aber sie hätten zu jeder Zeit nach dem
letzten Sturm erzeugt worden sein können. Und am
wahrscheinlichsten war, daß sie von Cowboys erzeugt worden
waren, die nach ihren im Winter zerstreuten Herden gesucht hatten:
dies war der Rand der weiten Gebiete, wo halbwilde Yaks und Dzos
grasten.
    Also machte er das Beste daraus und genoß die Einsamkeit der
gewaltigen, stillen Nacht. Es war gut, allein und außerhalb des Danwei zu sein, ohne an andere Menschen denken zu müssen,
ohne den Ermahnungen und Ratschlägen zuhören zu
müssen, die beständig über die Lautsprecher gesendet
wurden. Überall waren sie, in der Erholungshalle von Nummer
Eins, in den Labors, sogar draußen
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