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Das Lächeln des Leguans

Titel: Das Lächeln des Leguans
Autoren: dtv
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    »Während eines Tauchgangs in große Tiefen stellt sich gelegentlich ein rauschähnliches Gefühl der Euphorie ein. Dieses als
     ›Tiefenrausch‹ bekannte Phänomen rührt von der narkotischen Wirkung der Inertgase auf das Nervensystem aufgrund des steigenden
     Drucks her.«
     
    Die Möwen tauchen plötzlich von Osten her auf und scharen sich in wimmelnden Trauben auf allen Dachfirsten, um gemeinsam ein
     Klagelied anzustimmen. Sie rufen, antworten, provozieren einander, stoßen Schreie aus, als nähmen sie an einem Hexensabbat
     teil, und da mein Zimmer sich oben unter dem Dach befindet, kann ich ihre Schritte hören. Es klingt, als würde ein ganzes
     Bataillon von Zwergen über meinem Kopf exerzieren. Vom Fenster aus wirkt es so, als seien sie auf dem Schuppendachwie lebendige Kegel aufgereiht. Manchmal sind es derart viele, dass man denken könnte, man sei in einem alten Film über wild
     gewordene Vögel, aber im Gegensatz zu Hollywood sind unsere Möwen ganz harmlos. Es besteht keine Gefahr, dass ihre Schnäbel
     einem plötzlich in die Mütze fahren. Sie interessieren sich noch nicht einmal für die Mülltonnen. Jeden Tag ist es dasselbe.
     Man fragt sich, was wohl der Grund für diese allmorgendliche Geschäftigkeit sein mag.
    Ich persönlich habe nichts gegen Möwen, aber Großvater gehen ihre misstönenden Ständchen auf die Nerven. Er wacht davon auf,
     dabei schläft er doch so gern lang. Er stürzt im Pyjama nach draußen und versucht, die dreisten Schwimmvögel zu verscheuchen,
     indem er sie mit Steinen bewirft, aber er zielt nicht gut und bewirkt nur, dass das empörte Protestgeschrei noch lauter wird,
     falls nicht sogar eine Scheibe zu Bruch geht. Wenn er könnte, würde er seine Winchester nehmen und mit dem übellaunigen Federvieh
     kurzen Prozess machen, doch Großmutter versteckt seine Munition. Sie ist partout gegen ein solches Massaker an unschuldigen
     Vögeln, und so müssen wir das Geschrei der Möwen ertragen, bis sie es gegen sieben Uhr selbst nicht mehr hören können und
     auf einmal alle zugleich davonfliegen.
    Eigentlich kommt mir dieses Spektakel, dieses frühe Erwachen ganz gelegen. So wird die Nacht mit ihren Angstschauern zurückgedrängt.
     So lässt sich jeder einzelne Maimorgen genießen, dieses besondere Licht auskosten,das im Frühling bei Tagesanbruch am Himmelssaum haftet. Wenn die Möwen eintreffen, gehe ich ans Ufer, zum kathodischen Zischen
     des schlaftrunkenen Wassers. Ich liebe es, mitanzusehen, wie der Horizont sich auflöst, während eine glühende Sonne über ihn
     hinwegsteigt, stolz darauf, am Ende ihrer finsteren Reise ein weiteres Mal zu neuem Leben zu erwachen. Das ist der geeignete
     Moment, der unterseeischen Nacht auf den Grund zu gehen und die von den Gezeiten zurückgelassenen Spuren, ganz schlichte,
     hin und wieder leblose Überraschungen, zu sichten. Neulich ist vor dem Haus von Madame Papet ein Hai angeschwemmt worden,
     ein Riesenhai, so lang wie ein Haus, mit einem so gewaltigen Maul, dass er mich ganz beiläufig hätte verschlingen können,
     als wäre ich Plankton. Beim Anblick des riesigen Kadavers kratzten die Männer sich die Köpfe. Es wurde diskutiert und gerätselt,
     was man damit anstellen sollte; man konnte den Hai nicht einfach dort liegen lassen, weil er natürlich im Weg war, und nicht
     zuletzt wegen des Gestanks, der sich bereits bemerkbar machte. Als man schon dabei war, ihn mit einer Motorsäge zu zerteilen,
     tauchten ein paar Leute von der Seefahrtsbehörde auf, um diesen Schiffbruch auf dem Trockenen zu dokumentieren. Sie haben
     die Arbeiten gestoppt und Fotos gemacht, wie Polizeiinspektoren. Es fehlte nur noch ein Absperrband, dieses gelbe Ding, mit
     dem sie den Ort eines Verbrechens schmücken. Ich dachte, sie würden uns, wo sie schon mal dabei waren, auch noch die Fingerabdrücke
     abnehmen, aber das habensie dann doch nicht getan; wir waren nicht verdächtig genug. Als sie fertig waren mit den Fotos, haben die Beamten einen Kran
     und einen Lastwagen kommen lassen, um den Hai abzutransportieren. Ich weiß nicht, wohin. In die Leichenhalle? Ins Museum?
     Zur Mülldeponie? Wahrscheinlich eher ins Seefahrtsministerium, um ihn in einem knorpeligen Ordner abzulegen. Oder aber er
     verschwindet irgendwo in der – zuvor desodorierten – Versenkung.
    Ich frage mich, woran der Hai wohl gestorben sein mag. Er hatte keine Wunde, war in keinem Netz gefangen. An irgendeiner Haikrankheit?
     Einem maritimen Problem? Einem
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