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Rosenrot, rosentot

Rosenrot, rosentot

Titel: Rosenrot, rosentot
Autoren: Emily Arsenault
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– wir hatten keinen Kabelanschluss –, einer gebrechlichen alten Vermieterin im Erdgeschoss und einer alleinerziehenden Mutter, die stolz darauf war, fünf Mahlzeiten aus einem einzigen Huhn zuzubereiten. Ob ich rüberkommen wollte? Damals lautete meine Antwort immer: »Ja.«
    Als Charlotte diesmal anrief, saß ich in der Garage an der Töpferscheibe und betrachtete eine Skizze, die ich eine Woche zuvor gezeichnet hatte: eine klobige Teekanne mit einem breiten, runden Henkel. Schon zweimal hatte ich mich hingesetzt, um die Kanne zu töpfern, aber jedes Mal war ich durch etwas Dringenderes abgelenkt worden – eine Rechnung, die ich zu bezahlen vergessen hatte; den Rasen, den ich noch mähen wollte.
    Doch nun blickte ich auf den frischen Tonklumpen in meinen Händen – ich müsste ihn bloß auf die Scheibe legen undanfangen. Die Noten hatte ich abgegeben, die Wäsche war gemacht, und das hier war es, was ich eigentlich die ganze Zeit schon hatte tun wollen. So wie letztes Jahr: Den Sommer über hatte ich wie doof getöpfert, damit ich bis Weihnachten reichlich verkaufen konnte; schließlich ließ mir das Unterrichten im Herbst nicht viel Zeit für andere Dinge. Im vergangenen Jahr hatte das wunderbar funktioniert, aber dieses Jahr kam ich einfach nicht richtig rein. Eigentlich brauchten Neil und ich meine mageren Umsätze von den Kunsthandwerker- und Bauernmärkten auch nicht mehr – und eigentlich brauchte ich auch keine Komplimente von Frauen in Juteröcken und ihren sanftmütigen, bärtigen Ehemännern mehr. Ganz zu schweigen davon, dass ich meine niedlichen Teekannen und Tassen ein bisschen leid war. Nichts gegen »niedlich«, nur war ich mir nicht sicher, ob ich unbedingt weiter Niedliches fabrizieren wollte.
    Zuerst überlegte ich, das Klingeln zu ignorieren. Das war eindeutig einer dieser existenziellen Momente, vor denen das Töpfern einen theoretisch bewahren sollte. Wenn ich mich konzentrierte und in der Garage blieb, könnte ich es durchziehen. Wenn ich schlicht alles andere um mich herum ausblendete und die Töpferscheibe drehte – ja, dann würde ich es wohl einfach vergessen.
    Doch nach dem dritten Klingeln sprang ich auf und rannte durch die Tür ins Haus.
    »Hallo?«
    »Hallo? Nora?« Bereits der Klang ihrer Stimme verschaffte mir eine seltsame Erleichterung, bevor ich überhaupt begriff, wer dran war. »Hier ist Charlotte Hemsworth.«
    »Charlotte?«, wiederholte ich. » HEY !«
    »Ja.«
    »Wow! Wie geht’s dir?«
    Charlotte zögerte. »Nicht schlecht. Und dir? Ich habe gehört, dass dein Mann und du euch ein Haus gekauft habt.«
    »Ähm, ja.«
    Skeptisch sah ich mich im Wohnzimmer um. Fünf Monate war es jetzt her, dass wir die Wände in einem frischen Gelb gestrichen hatten. Neil hatte mir damals versichert, die Farbe würde mir besser gefallen, sobald wir Möbel reingestellt und ein paar Bilder aufgehängt hätten. Das war inzwischen alles erledigt, doch ich war immer noch nicht überzeugt.
    Charlotte schwieg.
    »Woher weißt du das mit dem Haus?«, fragte ich.
    »Ich habe deine Mom angerufen, und sie hat es mir erzählt. Unter deiner alten Nummer konnte ich dich ja nicht mehr erreichen.«
    »Meine E-Mail-Adresse ist aber noch dieselbe.«
    »Kann sein, aber ich wollte dir nicht mailen, Nora. Ich wollte mit dir reden.«
    »Okay, das ist schön. Ich bin froh, dass du ...«
    »Nora«, fiel sie mir ins Wort.
    »Ja?«
    »Sie haben sie gefunden.«
    »Gefunden? Wen?«
    »Rose.«
    Vor meinem geistigen Auge erschien ein Bild von Rose, wie sie in die Polizeiwache von Waverly kam. Ihr dunkelblondes Haar war knapp schulterlang, und aus dem weiten, tief ausgeschnittenen violetten Sweatshirt lugten oben ihre schwarzen BH -Träger hervor, was mir regelrecht exotisch erschien. Sie roch nach »Love’s«-Parfüm, das ihren Nikotingeruch übertünchen sollte, und ihre künstlich ausgeblichene Jeansjackehatte sie sich um die Taille gebunden. Allerdings war ihr Gesicht ungefähr fünfzehn Jahre älter als damals. Oder war das alles schon mehr als fünfzehn Jahre her?
    »Oh, mein Gott!« Mein Herz begann zu rasen. »Ist sie ...«
    »Also, ich meine, sie haben ihre Leiche gefunden. Na ja, die Knochen.«
    Ich lehnte mich an die Wand und drückte das Telefon so fest an mein Ohr, dass es wehtat.
    »Nora?«, fragte Charlotte.
    Ich versuchte mir vorzustellen, wie Charlotte in diesem Moment aussah. Wie sie an dem alten Küchentisch ihrer Eltern saß, umgeben von hässlichen rosafarbenen Tapeten mit einem scheußlichen
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