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Rosenrot, rosentot

Rosenrot, rosentot

Titel: Rosenrot, rosentot
Autoren: Emily Arsenault
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und hielt sie nun in der Hand. Charlotte konnte sich das hier wieder und wieder anhören, und trotzdem würde sie Toby nierichtig hören, weil sie nicht wusste, wie man so zuhörte wie ich. Sie wusste nicht, dass Toby etwas zu sagen versuchte. Er war ein Junge und kannte keine solch hochtrabenden Wörter wie sie. Deshalb konnte er es eben bloß auf eine Blöder-Junge-Art sagen. Charlotte wusste nicht, wie man die zu verstehen hatte, und ich wollte sie nicht hören, nie wieder. Also war diese Aufnahme nutzlos.
    Ich pulte ein bisschen von dem braunen Band aus dem viereckigen Loch unten in der Kassette und riss dann daran, bis eine lange Schlaufe hinaushing.
    » NEIN !«, schrie Charlotte, sprang auf und stürzte sich auf mich.
    Doch auch nachdem ich zu Boden gefallen war, zerrte ich weiter das Band aus der Kassette. Charlotte packte mich, kratzte mich und schmierte mir frischen perlmuttfarbenen Nagellack auf meine Hände, meine Arme und das Gesicht.
    »Was machst du denn?«, kreischte sie. »Bist du verrückt, Nora? Was ist nur mit dir los?«
    Es gelang ihr, mir die Kassette zu entreißen, aber ich erwischte ein Stück von dem Band, drehte daran, zerrte und biss hinein, sodass es schließlich riss.
    »Oh, SUPER !«, stöhnte Charlotte und sank auf den Teppich. »Jetzt können wir es nie wieder hören. Die ganze schöne Forschung umsonst!«
    »Kann dir doch egal sein«, behauptete ich. »Du hast ja sowieso schon alles gehört.«
    »Na und? Heißt das vielleicht, du darfst einfach meine Kassette kaputt machen?«
    »Ich kauf dir eine neue.«
    »Das solltest du auch!«
    »Mache ich ja.«
    »Prima.«
    Charlotte setzte sich auf und starrte mich an. »Bist du sauer auf Toby? Weil er die Aufnahme gestört hat?«
    Ich antwortete nicht.
    »Hast du irgendwas gehört?«, fragte sie leiser.
    Ich sah sie an. Ihre Wut wegen der Kassette war schon wieder weitestgehend verflogen. Wie aber sollte ich ihr erklären, dass ich etwas Schreckliches in Tobys Stimme gehört hatte? Und dass sie es auch gehört hatte, nur eben nicht so fühlte wie ich? Ich verstand es zwar nicht, konnte es aber fühlen, und sie nicht.
    Vielleicht war ich deshalb seit Wochen so wütend auf sie. Sie wusste wirklich viel, aber manchmal merkte sie einfach nichts.
    »Ich habe dasselbe gehört wie du«, murmelte ich.
    Eine Minute lang hockten wir zusammen auf dem Teppich. Charlotte sah mich an; doch ich sah weg, dorthin, wo ihr schwarzes Buch auf dem Boden lag, die Seite mit den Statuen auf der Osterinsel aufgeschlagen. Ich überlegte kurz, ob ich sie bitten sollte, mir das Buch auszuleihen. Doch dann entschied ich mich dagegen, denn ich glaubte einfach nicht, dass ich am nächsten Tag wieder hierherkommen würde.
    »Ich fühl mich nicht gut«, erklärte ich. »Ich geh vielleicht lieber nach Hause.«
    »Musst du kotzen oder so?«, fragte Charlotte.
    »Kann sein.« Wenigstens war das etwas, was wir beide verstanden.
    Und dann ließ sie mich gehen.

Einundzwanzig

    27. Mai 2006
    Ich weiß nicht, wie lange wir so dort auf dem Tennisplatz saßen. Die Sonne schien warm vom Himmel, auch wenn ein leichter Wind wehte. Aus einem Ahorn in der Nähe drang fröhliches Vogelgezwitscher. Toby hatte immer noch die Hände vor dem Gesicht.
    »Wie gesagt, ich wünschte, dass du es gewesen wärst«, sprach er nach einer ganzen Weile in seine Hände. »Jeder dachte, dass du vielleicht irgendein dunkles Geheimnis mit dir herumträgst – etwas, was du gesehen hattest; etwas, was dich verfolgte. Etwas, was mit Rose zu tun hatte; etwas, was zu furchtbar und finster war, als dass du dich daran erinnern, geschweige denn davon erzählen könntest. Ich wünschte, du wärst es gewesen, nicht ich; es gingen sowieso alle davon aus. Und? Wie fühlt es sich jetzt an, wirklich ein solches Geheimnis zu haben, wie es dir alle immer unterstellt haben?«
    Ich atmete ganz langsam ein und aus – so, wie Charlotte es mir damals beigebracht hatte. Damals, als ich noch ihr Versuchsobjekt war. Und allmählich sahen die Bäume um den Platz herum wieder wie Bäume aus. Endlich hörte mein Herz auf zu rasen.
    Doch ich beantwortete die Frage nicht.
    »Es ist noch nicht zu spät, Toby«, sagte ich stattdessen.
    »Doch, das ist es. Ich habe die Leiche bewegt. Sie versteckt.Nicht als ich elf war, nicht als ich sechzehn war. Nein, mit siebenundzwanzig. Ich bin siebenundzwanzig. Es ist zu spät.«
    Ich betrachtete sein kurzes dunkles Haar. Wie anders es heute aussah als sein Beinahe-Vokuhila-Schnitt von früher. Diese
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