Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rosenrot, rosentot

Rosenrot, rosentot

Titel: Rosenrot, rosentot
Autoren: Emily Arsenault
Vom Netzwerk:
Nagellackfläschchen. Ich hätte eigentlich vermutet, dass sie vorspulen würde, bis die Stelle vorbei wäre, aber das tat sie nicht. Also angelte ich mir ein paar besonders fettige Popcornflocken vom Rand der Schale und aß sie.
    Die ersten Aufzeichnungen waren schnell vorüber. Dann kam eine Pause, gefolgt von Charlottes Ansage: »Wir sind im Haus der Deans, im obersten Stock. Die Deans benutzen diesen Raum nur als Dachboden, wie der Bewohner Toby Dean angibt. Der Grund könnte Furcht vor ... möglichen übersinnlichen Aktivitäten sein. Ich stelle den Kassettenrekorder jetzt auf eine Kiste ...«
    Es war einiges Schaben zu hören, dann Charlottes Schritte auf den knarrenden Dielenbrettern, Stille.
    Charlotte öffnete eine Flasche mit perlmuttfarbenem Nagellack und pinselte sich den linken Daumennagel an. Ich fand, dass ich nicht so tun müsse, als würde ich besonders aufmerksam zuhören, und zog Rätsel vergangener Kulturen unter dem Bett hervor. Weil wir fast durchgehend ermittelten, packte Charlotte die Bücher gar nicht erst wieder weg, wie sie es früher getan hatte, bevor Rose verschwunden war. Ich schlug mein Lieblingsbild von der Osterinsel auf und betrachtete es, während das Band weiterlief.
    Wieder waren Schritte zu hören.
    »Da bin ich ins Bad gegangen«, gestand Charlotte. »Ich habe auch in Tobys Zimmer gesehen. Er hat ein Poster von Alyssa Milano an der Wand. Ist das nicht eklig?«
    Ich nickte.
    Auf dem Band war es still, doch dann folgten noch mehr Schritte und ein kehlig seufzender Klang.
    »Rose. Roooose. Wo ist ROOOOSE?« , fragte die Stimme abrupt. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich starr vor Schreck, aber nur bis ich begriff, dass es Toby war. »Was ist mit Rose LOOOOS?«
    »Ich werde ihn erwürgen«, kommentierte Charlotte sehr gelassen. Nun lackierte sie sich die Fingernägel der linken Hand.
    Toby wiederholte seine Rufe, verstummte kurz und fing dann an, langsam und tief zu summen. So stellte er sich wohl ein Geistersummen vor.
    Dann sang die Geisterstimme »Every Rose Has Its Thorn« von Poison.
    »Mann, Toby ist so blöd!«, schimpfte Charlotte.
    Das Singen dauerte eine ganze Weile, denn Toby wiederholte dieselben Zeilen mehrmals und übersprang die, die er nicht auswendig konnte. Schließlich machte er das Gitarrensolo nach, steigerte sich richtig hinein und vergaß, dass er ein Geist sein wollte:
    »Niiiiinina-niinaniina-niinaniina-NIIIIIIII!«
    Ich zog den Kopf ein, als Toby in das Mikrofon kreischte.
    »Was für ein Idiot«, meinte Charlotte und sah mich an, als sollte ich ihr zustimmen.
    Irgendwie hatte sie ja recht, aber mir wäre es gemein, ja, wie Verrat vorgekommen, das auszusprechen. Ich dachte an Toby und mich unter dem Trampolin am Tag zuvor. Wenn ich mit ihm allein war, konnte er sich normal benehmen, konnte er ruhig sein. So ruhig, dass ich mir den Silberwald vorstellen konnte, obwohl Toby neben mir saß. So ruhig, dass ich dort unter dem Trampolin hätte einschlafen können und beinah vergessen hätte, dass er da war.
    Aber jetzt war sein Gesang so laut und so schrecklich, dassich mich kaum noch an die Stille erinnern konnte. Seine Stimme war tief wie die seines Bruders und langsam wie die seines Dads – und vielleicht auch ein bisschen traurig.
    Als ich gerade dachte, dass ich es keine Sekunde mehr länger aushalte, endete der Song. Dann hörte ich Toby schnalzen. Anscheinend überlegte er, was ein Geist sonst noch so machte. Er brauchte ungefähr eine Minute, bis ihm etwas einfiel.
    »Wer ... Wer? Wer war die Letzte?« , leierte er in dieser tiefen, heiseren Stimme, die Death-Metal-Sänger gerne haben. Er hörte sich nach einem richtig bösen Krümelmonster oder einem wahnsinnigen Nikolaus an.
    »Wer. War. Die Letzte. Die sie. Lebend. Saaaah?«
    »Wie geschmacklos«, meinte Charlotte lehrerhaft.
    » WER . WAR . DIE . LETZTE «, wiederholte er, nun rhythmischer.
    Ich ballte die Hände zu Fäusten und wollte nicht hinhören. Konzentriert sah ich auf mein vollkommenes Bild von den Osterinselstatuen. Es war inzwischen schon das zweite Mal, dass Toby fragte, wer Rose tatsächlich als Letzter lebend gesehen hatte. Die dämliche Death-Metal-Stimme machte mir keine Angst – nur die Frage, die er dauernd stellte.
    » DIE SIE LEBEND SAAAAH ?«
    Ich stand auf.
    » WER ...«
    Hastig hechtete ich zu Charlottes Schreibtisch und stoppte das Band.
    »Er ist fast fertig«, erklärte sie. »Danach geht er wieder runter.«
    Doch ich hatte die Kassette bereits aus dem Gerät gerissen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher