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Die drei Frauen von Westport

Titel: Die drei Frauen von Westport
Autoren: Cathleen Schine
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    Als JosephWeissmann sich von seiner Frau scheiden ließ, war er achtundsiebzig Jahre alt, und sie war fünfundsiebzig. Seinen Entschluss tat er in der Küche ihrerWohnung im zehnten Stock eines eleganten, um die Jahrhundertwende erbauten Apartmenthauses am Central ParkWest kund, umgeben von den weiß schimmernden Originalkacheln an den Wänden. Joseph, der bei seinen Kollegen als Joe bekannt war, von seiner Frau jedoch stets Joseph genannt wurde, stellte fest, dass seine Gattin sehr verwirrt wirkte, als er dieWorte »unüberbrückbare Differenzen« aussprach.
    Unüberbrückbare Differenzen?, sagte sie. Selbstverständlich gibt es die. Aber was um alles in derWelt hat das mit Scheidung zu tun?
    In Joes Fall hatte das tatsächlich sehr wenig mit Scheidung zu tun. In Joes Fall – wie es so oft der Fall ist – war der Grund für die Scheidung eine andere Frau. Doch eine andere Frau war – was wiederum nicht weiter verwunderlich ist – nicht der Grund, den er bei seiner Ehefrau als Grund angab.
    Unüberbrückbare Differenzen?
    Betty war verblüfft. Seit achtundvierzig Jahren waren sie verheiratet. Sie war vertraut mit Joseph und ging davon aus, dass es sich bei ihm ebenso verhielt. Doch er ließ sich nicht umstimmen. Ihre gemeinsame Geschichte war von nun an Geschichte für ihn.
    Joseph war früher ein gut aussehender Mann gewesen. Auch jetzt hielt er sich noch kerzengerade, und sein kahler Schädel wirkte eher vornehm als ältlich, ganz als sei eine schimmernde Glatze ein Merkmal bedeutsamer Männer. Seine schmale Nase ragte markant hervor. Seine Augen waren ebenfalls schmal und zunehmend unter Hautfalten verborgen wie sorgfältig gehütete Geheimnisse. Frauen mochten ihn gerne. Das war bei Betty freilich früher auch der Fall gewesen. Joseph war ruhig und bescheiden und brauchte nichts außer einem ausgiebigen Frühstück, bevor er zur Arbeit aufbrach, einem großen Glas Scotch, wenn er nach Hause kam, und einem leichten Abendessen um Punkt halb acht.
    Doch im Lauf der Jahre hatte Betty vergessen, dass sie Joseph gerne mochte. Sie empfand das ausgiebige Frühstück zunehmend als grotesk, den abendlichen Drink als zwanghaft und das leichte Abendessen als affektiert. Diese Veränderung trat in ihrem dritten gemeinsamen Jahrzehnt ein und dauerte bis zum vierten an. Dann merkte Betty, dass Josephs Gewohnheiten beruhigend auf sie wirkten, wie der Herzschlag der Mutter auf ein Neugeborenes. Betty war wieder zufrieden und nahezu verliebt. Sie reisten in die Toskana und beobachteten auf den Chianti-Hügeln, wie Schwalben durch die Luft sausten und schiefergraue R egenwolken heranzogen. Sie unternahmen Schiffsreisen durch die Fjorde von Norwegen und zu den Galapagos-Inseln. Sie fuhren in Indien mit dem Zug von einem Palast zum nächsten, versetzten sich in die Kolonialzeit zurück und aßen köstlich duftende Curry-Gerichte. All das erlebten sie zusammen. Und dann war all das ganz plötzlich vorbei.
    »Unüberbrückbare Differenzen«, sagte Joe.
    »Aber, Joseph.Was soll das denn mit Scheidung zu tun haben?«
    »Ich möchte großzügig sein«, sagte Joseph.
    Großzügig?, dachte Betty. Sie kam sich vor wie ein Dienstmädchen, das entlassen werden sollte.Wollte er ihr zwei Monate Lohn als Abfindung anbieten?
    »Du kannst mit meinem Eigentum nicht großzügig sein«, erwiderte sie.
    Und die Scheidung war in gestrecktem Galopp unterwegs, wie schwitzende Pferde beim R ennen.
    Der Name von Josephs unüberbrückbaren Differenzen lautete Felicity, wobei Betty hartnäckig so tat, als könne sie sich den Namen nicht merken, und ihn auf vielfältigeWeise verballhornte. Doch das geschah erst später, nachdem Betty sich gezwungenermaßen von derWohnung am Central ParkWest getrennt hatte. Während der Unterredungen, die zu diesem Ereignis führten, blieb Betty und ihren Töchtern nichts anderes übrig, als darüber zu spekulieren und argwöhnisch zu vermuten, dass es da irgendwo eine Felicity gab, der sie niemals offiziell vorgestellt worden waren.
    »Ich werde großzügig sein zu meiner Frau«, sagte Joe zu Felicity. »Ich habe mit dieser Frau schließlich fast fünfzig Jahre meines Lebens verbracht.« Als er »meine Frau« sagte, schaute Felicity ihn böse an.Was Joe jedoch entging, denn er fühlte sich bei demWort »fünfzig« plötzlich verwirrt und traurig. Das war mehr als die Hälfte seines Lebens.Was machte er nur? Er war zu alt, um ein neues Leben anzufangen. Doch als ihm dasWort »alt«, diese triste, bedrückende Silbe,
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