Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rollentausch

Rollentausch

Titel: Rollentausch
Autoren: Lindsay Gordon
Vom Netzwerk:
vertraute ihnen, und sie gaben dir alles, um was ich sie gebeten habe ... Ist es nicht besser so, meine Liebe?« Seine Stimme brach.
    Mina drehte sich zu ihm um und sah die Tränen in seinen Augen. Sie spuckte ins Wasser und ließ sich wieder hinabgleiten.
    Du glaubst wohl, dass Essen und heißes Wasser alles im Leben bedeuten, dachte sie verärgert, als sich seine Schritte wieder entfernten. Aber ich werde von dem Einzigen, was ich wirklich wollte, ferngehalten. Die Vorstellung, wie du in mich gleitest, wie mein Körper nach dir schreit ... Ich würde mit dir zusammen in einem Kuhstall leben, statt ohne dich am schönsten Platz.
    Der Gedanke war großartig. Sie wiederholte ihn immer wieder, um das Gefühl loszuwerden, dass es nicht die Wahrheit war. Sie schlief auf Daunen und nicht auf hartem Dreck. Sie trug wallende Seide und keine raue, verdreckte Baumwolle. Sie schwelgte jeden Tag im heißen Wasser der Quelle. Ihre Hände waren weich, und ihre Haut glühte vor Gesundheit. Die Wände ihres Schlafraums waren aus Lehm und nicht aus Schilf; sie hielten die heulenden Winterwinde ebenso fern wie die brennende Sommersonne. Trotz allen Komforts, den ihr Körper genoss, wurde ihm seine eigentliche Bestimmung vorenthalten. Mina wollte in das Echo des Raumes schreien: Was wollt ihr von mir? Ruhig, bis die Götter zu mir sprechen, mahnte sie sich verbittert. Ruhig und ungebraucht bis ins Grab.
    Der Frühling war eine Qual für sie. Frische Brisen und die wärmende Sonne umspielten ihr Haar, ließen es prickelnd über Schultern und Rücken wallen. Die Bäume im Innenhof bekamen Knospen, neue Säfte stiegen in ihnen empor und brachten sie zum Blühen. Auf den Ästen vergnügten sich die Vögel miteinander, und Insekten schwirrten durch die belebende Luft.
    Will ich wirklich hier bleiben? fragte sie sich. Zusehen, wie meine Neigungen verkümmern und sie altersbedingt vertrocknen wie bei diesen beiden Weibern? Ist es das, was die Götter, die alle so verehren, von mir wollen? Es verlangte Mina danach, wieder zu reden und von den alten Frauen Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Wut und Dickköpfigkeit rangen im ständigen Widerspruch in ihrem Kopf. Gewiss hätte sie entkommen können, das wäre für sie kein Problem gewesen, aber wohin sollte sie gehen, wovon sollte sie sich ernähren? Der Spätsommer wäre der bessere Termin für eine Flucht, dann war das Obst reif und das Getreide golden.
    Für einen Moment vergaß sie ihren Hass auf Corin und fragte sich, ob er ihr wohl helfen würde. Eine ungebetene Fantasie spornte ihre Vorstellungen an. Wie sie gemeinsam wegliefen, wie sie auf dem Land Nahrung stahlen, auf den Feldern schliefen und wie sie sich ihm unter den Sternen öffnete. Sie beiden waren in Schweiß gebadet, die Felsen gruben sich in ihren Rücken – eine kurze Erinnerung überkam sie.
    Als der Sommer kam, schienen sich die alten Frauen ihrer zu erinnern. Stundenlang kämmten sie ihr Haar und ölten ihre Haut. Sie ließen Mina nicht mehr allein im Wasser treiben, sondern rubbelten sie mit Steinen ab und wuschen ihr Haar.
    Viele Bahnen von Stoffen, schimmernd und transparent, wurden gebracht. Sie nahmen an ihr Maß und nähten mit kleinen Stichen neue Gewänder. Den Saum bestickten sie mit hunderten silberner Sterne.
    Am Abend warfen sie ihr das Gewand über. In der untergehenden Sonne schimmerte ihr Körper darunter wie Gold. Sie legten Mina einen Halbschleier vor das Gesicht und befestigten ihn hinter ihren Ohren. Ihre Handgelenke und Knöchel schmückten sie mit kupfernen Reifen, und um ihren Hals legten sie eine Kette aus Gold mit Lapislazuli-Dreiecken.
    Draußen wartete ein mit Bändern geschmückter Karren auf sie, vor den ein Esel gespannt war.
    Mina sah die Frauen scharf an.
    Wohin bringt ihr mich? Was passiert hier? Kein Wort kam über ihre Lippen. Sie hatte ihre Sprache verloren, seit sie vor einem Jahr zuletzt gesprochen hatte. Sie geriet in Panik. Ich habe ein Gelübde gegenüber nicht existierenden Göttern abgelegt, sagte sie sich, aber jetzt will ich sprechen.
    Wohin bringt man mich? Ihr Mund öffnete sich, aber ihre Lippen konnten keine Wörter formen. Angst überkam sie, sie riss ihre Augen weit auf. Eine der alten Frauen lächelte beruhigend und strich durch den Schleier über ihre Wangen.
    »Hab keine Angst, meine Liebe«, sagte sie. »Innana wird dich so sicher beschützen, wie sie dein Schweigegelübde honoriert hat.«
    Als das Gefährt mit ihr durch das letzte schräge Sonnenlicht zum Tempel
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher