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Das bin doch ich

Das bin doch ich

Titel: Das bin doch ich
Autoren: Thomas Glavinic
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Eins
    Ich gehe ins Bad. Bevor ich die Unterhose ausziehe, wende ich mich vom Spiegel ab. Den Kopf starr geradehaltend, damit mein Blick nicht doch noch auf mein Geschlechtsteil fällt, steige ich in die Duschkabine. Unter den üblichen Verrenkungen dusche ich. Beim Rausgehen, als ich den Blick in den Spiegel nicht vermeiden kann, kneife ich die Augen zusammen. Ich recke den Hals und trockne mich ab. Die Verkrampfung löst sich erst, als ich wieder angezogen bin.
    So geht das schon lange. Ich bin Hypochonder, und seit ich vor eineinhalb Jahren gelesen habe, eines der Anzeichen für Hodenkrebs sei ein leicht geschwollener Hodensack, vermeide ich es, meine Hoden anzusehen, beim Duschen, beim Umziehen, beim Schlafengehen sowie bei bestimmten Gelegenheiten, bei denen man eigentlich nicht anders kann, als hinzusehen. Ich kenne mich. Wenn ich meine Hoden ansehe, bilde ich mir bestimmt ein, etwas habe sich verändert. Manchmal träume ich sogar davon, ich träume von wahren Ballonhoden. Ich will das nicht, ich will nichts von Hodenkrebs hören, ich will an überhaupt keine schweren Krankheiten denken, ich ertrage das nicht, generell nicht und derzeit schon gar nicht.
    Ich setze mich an den Computer, keine Emails. Nicht überraschend, wenn man bedenkt, daß ich erst vor einer Viertelstunde nachgeschaut habe. Enttäuscht bin ich trotz dem. Ich warte auf nichts Bestimmtes, aber ich hätte nichts dagegen, wenn mir jemand schreibt. Vor einer Woche habe ich meinen fünften Roman beendet. Die Arbeit der Nacht ist die Geschichte von Jonas, der eines Tages erwacht und feststellt, daß alle anderen Menschen verschwunden sind. Meine Agentin hat das Manuskript an verschiedene Verlage geschickt, und nun heißt es warten. Ich bin schlecht im Warten, deswegen mache ich schon am Nachmittag eine Flasche Wein auf.
    Mir fehlt die tägliche Beschäftigung am Schreibtisch. Ich schleiche durch die Wohnung, rufe fünfmal in der Stunde Mails ab, suche nach Ablenkung. Else sagt, ich habe einen Dachschaden, ich soll mit Stanislaus spazierengehen. Sie sagt es oft, sie sagt es auch jetzt. Eigentlich hat sie recht. Sie zieht ihn an, ich ziehe mich an, und wir gehen.
    Stanislaus ist zwanzig Monate alt. Ich schiebe ihn im Kinderwagen um den Block. Spannend finde ich das nicht, deshalb überlege ich, wen ich anrufen könnte. Die Finkin fällt mir ein, wir wollen sie ohnehin nächste Woche besuchen. Ich rufe an, sie klingt verschlafen.
    »Habe ich dich aufgeweckt?«
    »Ja.«
    Ich schaue auf die Uhr, es ist vier Uhr nachmittags. Eine Weile reden wir Belangloses, daneben weist mich Stanislaus auf Kräne und Bagger hin. Ich bitte die Finkin, in Villach für Else und mich ein Hotelzimmer zu reservieren.
    Ich habe den Spazierweg unbedacht gewählt, und so kommen wir am Spielplatz vorbei. Stanislaus beginnt Theater zu machen, er will hinein. »Da! Da!« zeigt er. Er tut mir leid, aber ich muß ihn vorbeischieben, Else soll nachher mit ihm gehen. Ich kann nicht mit ihm auf den Spielplatz, denn ich habe Angst, gegenüber irgendeinem Kind, das zu meinem Sohn böse ist, tätlich zu werden. Überhaupt sind die meisten Kinder so verwünschte Bestien, daß ich nicht einmal in die Nähe des Spielplatzes kommen will. Mir reicht schon der Anblick herumlungernder Vierzehnjähriger mit Kampfhund und Zigarette, ich könnte sie alle schlachten und ausweiden und ihre Teile in die Müllcontainer stopfen. Nicht zuletzt, wer weiß, ich bin zwar fast einsneunzig groß, aber nicht besonders kräftig, außerdem kann man in der heutigen Zeit nicht ausschließen, daß die Kids stärker sind als man selbst, und wer will schon von Kindern verdroschen werden.
    »Ooo-haa!«
    Ich schaue Stanislaus an.
    »Ooo-haaa!«
    Da war wirklich etwas.
    »Oooo-haaa!«
    Ich assoziiere Telefon, ich kontrolliere, ob in der Ablage des Kinderwagens das Spielzeugtelefon liegt. Es liegt nicht dort.
    »Thooo-maaas!«
    Ich erschrecke heftig. Es ist die Stimme der Finkin. Aber die Finkin ist in Villach, sie kann mich nicht hier in Wien auf der Straße rufen. Das bedeutet, die Stimme ist in meinem Kopf. Ich habe dreimal in meinem Leben Stimmen in meinem Kopf gehört, und es war jedesmal so furchtbar, daß ich nun kurz vor einer Panikattacke bin.
    »Thooo-maaas! Reeede mit miiiir!«
    In meiner Jackentasche. Die Finkin sitzt in meiner Jackentasche und spricht. Mit mir ist bald alles vorbei. Ich spinne.
    …ach so, jetzt verstehe ich, schnell hole ich mein Mobiltelefon aus der Tasche, und um Geistesgegenwart zu
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