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Rico, Oskar und das Herzgebreche

Rico, Oskar und das Herzgebreche

Titel: Rico, Oskar und das Herzgebreche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steinhöfel
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Müggelsee gefallen war. »Frau Doretti! Tanja!«
    Oskar griff blitzschnell nach ihrer Hand und zog sie wieder runter. Selbst durch den Regen und über die Straße hinweg konnte ich sehen, wie Mamas Augen sich erschreckt weiteten, als sie uns durch den Regen erblickte. Ich sah auch die Hand des bulligen Rausschmeißers, die sich auf ihre nackte Schulter legte, um sie nach drinnen zurückzuzerren.
    Dann sah ich nur noch rot und stürmte los.
    Â»Kinder!«, schrie Frau Dahling hinter mir, und plötzlich war Oskar wie ein Schatten an meiner Seite, und die an meinem Hosenbund befestigten Plastikhandschellen vom verachtenswerten B schlugen klappernd gegen meine Beine, und Mama hatte sich von dem Türsteher losgerissen, sprang auf den Gehsteig, knickte um auf ihren hochhackigen Riemchensandalen und stürzte hinter eins der geparkten Autos, so dass ich sie nicht mehr sehen konnte, und aus der Karl-Marx-Straße ertönte das Sirenengeheul, kam näher und näher, und Frau Dahling schrie immer noch: »Kinder! Kinder!«
    Ich quetschte mich zwischen den geparkten Wagen durch und ließ mich neben Mama auf die Knie fallen. Sie lag mitten im Dreck auf dem matschigen Gehsteig, mit schmerzverzerrtem Gesicht. Ihr schönes helles Kleid sah auf der einen Seite aus wie ein Putzlumpen, und der Regen durchnässte sofort ihre Haare. »Rico«, stöhnte sie und tastete nach ihrem Knöchel, aber dabei sah sie mir direkt in die Augen, mit einem so verzweifelten Blick, dass die Bingotrommel in meinem Kopf knirschend zum Stillstand kam.
    Dann sagte Mama noch etwas, das aber im Lärm unterging, denn Oskar brüllte wie ein Verrückter den Boris an, der wie aus dem Boden gewachsen plötzlich auf dem Gehsteig stand, und trat ihm wieder und wieder gegen das Schienbein. Das Sirenengeheul wurde immer lauter, bis es mir fast die Trommelfelle zerriss. Millionen Regentropfen um uns herum leuchteten weiß und blau auf wie ein gigantisches Feuerwerk. Aus dem Club drängten aufgeregt rufende Leute nach draußen, hauptsächlich Männer, von denen einige davonhetzten, als wäre der Teufel hinter ihnen her, aber auch ein paar junge Frauen, die alle ähnliche Klamotten trugen wie Mama. Ein Kleid war besonders auffällig, es war wunderbar blau und fiel an seiner schlanken Trägerin herunter wie Wasser, sogar im Regen.
    Â»Fred!«
    Irina winkte und versuchte sofort zu uns durchzudringen, doch bevor sie uns in dem Gewühl und Gewimmel erreichen konnte, sah ich an ihren Beinen vorbei zwei Männer, gemeinsam mit dem riesigen Rausschmeißer, einen zusammengesunkenen älteren Herrn nach draußen tragen. Aus dem weit geöffneten, verrutschten Hemd von Herrn van Scherten quollen seine Brusthaare hervor, wie neulich im Bingoclub, auf seinem kalkweißen Gesicht zeichneten sich rote Pusteln ab, und seine Lippen öffneten und schlossen sich im verzweifelten Ringen nach Luft, die aus irgendeinem Grund nicht in seine Lungen wollte.
    Die Sirene hörte endlich zu heulen auf, aber die Menschen riefen und brüllten immer noch. Überall in der Straße klappten Fenster auf und wurden Wohnungen erleuchtet. Sanitäter in orange und weiß strahlenden Uniformen hasteten mit einer Trage heran, auf die Herr van Scherten gebettet wurde, und Irina zog einen der Sanitäter beim Arm, schrie auf ihn ein und zeigte auf Mama und mich. Am liebsten hätte ich mir mit den Händen die Augen und die Ohren zugehalten. Mir war das alles zu viel. Aber meine Hände hatten längst Mamas Schultern ergriffen. Sie versuchten sie hochzuziehen, damit ihr Kopf nicht im schmutzigen Regenwasser liegen musste, und deshalb musste ich zusehen, wie Mama weinte, und ich musste zuhören, wie sie schluchzte: »Rico, o Gott, Rico, mein einziger Schatz – du ahnst ja nicht, was du getan hast!«

    Irina nahm Oskar, Frau Dahling und mich in ihrem Flitzer mit zum Urban-Krankenhaus. Bis sie ihre Schuhe mit den spitzen Absätzen ausgezogen und sie zusammen mit ihrer Handtasche zu Oskar und mir auf die Rückbank gepfeffert hatte, war der heulende Krankenwagen mit Herrn van Scherten und Mama drin längst in der Nacht verschwunden. Jetzt fuhr Irina barfuß, fluchte aber trotzdem ständig, weil das enge blaue Kleid ihre Beine behinderte. Am Hermannplatz,vor einer roten Ampel, schob sie es sich kurzerhand bis unter den Hintern.
    Neben ihr genehmigte Frau Dahling sich einen kräftigen Schluck

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