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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
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    Franz, ich hab dich angerufen. Einen Tag am Morgen, einen Tag am Mittag, einen Tag am Abend. Wozu. Stefan hat gesagt, daß du nicht da bist. Auch in der Nacht hab ich dich angerufen. Ich bin zu früh angekommen. Oder zu spät. Du hast mich vermittelt, an Stefan. Wenn ich an dich denke, verändert sich dein Gesicht. Ich will dich sehen.
    Das Kind hielt die Hand hin.
    Die Mutter gab ihm Chips.
    Das Kind hielt die Chips wie Taubenfutter in der Hand. Es aß. Die Mutter kaufte eine Schachtel Streichhölzer am Zeitungskiosk.
    Das Kind sah der Frau mit dem Koffer nach. Dann der Frau mit dem Lilienstrauß. Dann der Frau im Pelz.
    Das Kind aß und sah den alten Frauen nach. Die anderen Passanten nahm das Kind nicht wahr.
    Es beugte sich nach vorn, um die Frau mit dem Hut zu sehn.
    Dann hielt das Kind die Hand hin.
    Die Mutter gab ihm Chips.
    Das Kind sah einer alten Frau nach, die eine Schachtel trug.
    Die Mutter rasselte mit den Streichhölzern in der Manteltasche.
    Die Streichhölzer in der Manteltasche der Mutter und die Chips im Mund des Kindes machten dasselbe Geräusch.
    Die alte Frau hatte die Schachtel neben ihren Schuh gestellt. Sie schaute dem Kind ins Gesicht. Da ihre Wangen weich wurden, spürte das Kind, daß die Frau im nächsten Augenblick lächeln würde.
    Das Kind hörte auf zu essen. Drehte sich weg.
    So rasch drehte das Kind sich weg, daß eine Flucht in der kurzen Bewegung war.
    In den Augen der alten Frau lag Verwunderung. Die Streichhölzer in der Manteltasche der Mutter waren still.
    Die Verwunderung war so deutlich wie eine Frage. Sie kroch der alten Frau übers Gesicht. Als sie den Mund erreichte, wurden die Wangen hart. Die Augen klein. Da war es Haß.
    Die Rolltreppe summte. Der Fahrkartenautomat klickte. Es fielen Münzen.
    Von weitem rauschte die U-Bahn.
    Mußt doch den Mantel nicht zuknöpfen, sagte eineStimme. Jetzt trug ein Mann den Lilienstrauß. Er nickte. Er war nicht jünger, nicht älter, nicht größer, nicht kleiner als die Frau. Er war einer der Passanten, die das Kind nicht wahrgenommen hatte.
    Die Schienen wurden hell.
    Die Bahn stand still. Vom Bahnsteig bis zur Decke hin riß sich der Sog los. Hatte die kalte Luft einer fernen Einöde und die heiße Luft naher, schwerer Maschinen.
    Als die Bahn wegfuhr, blieb der Bahnsteig leer.
    An der Stelle, wo das Kind gestanden hatte, lagen Chips.
    Es war eine Stille wie zwischen Hand und Messer gleich nach der Tat.

5
    ICH BIN OFT unterwegs, sagte Stefan.
    Die Verkäuferinnen standen in gedrängten Buden.
    Von außen sah die Gedächtniskirche wie eine Höhle von innen aus: bröckelnder Stein, dunkel und naß. Weiter unten die Lichter der Buden.
    Die Buden waren voll mit den gleichen Sachen.
    Und Franz, fragte Irene.
    Von einem Ohrgehänge zum anderen glitzerte der Stein, Stefans Kinn bewegte sich:
    Nicht oft. Oder doch.
    Dann Kerzenständer aus Glas in allen Farben. An jedem hing ein Tropfen. Der fiel nicht und fiel nicht. War geronnen und quälend schön.
    Es war, wie wenn man nicht mehr weinen kann.
    Lebt Franz allein.
    Könnte sein.
    Die Frau zwischen den Kerzenständern las, wenn sie nicht lächelte, in einem Buch. Dann kam ein Mann und küßte sie. Sie schaute in das Buch, als er sie küßte. Las diesen Satz, den einen noch, zu Ende. Sie schloß das Buch.
    Stefan sah nur auf den Asphalt:
    Ich kenne Franz nur durch seine Schwester. Mit ihr war ich einmal befreundet. Sie lebt nie allein.
    Der Mann löst die Frau ab, dachte Irene, als die Frau das Buch geschlossen hatte. Die Frau ging nicht. Sie griff sich ins Haar. Schaute den Mann an.
    Ist Marburg weit von hier, fragte Irene.
    Stefan sah ihr ins Gesicht.
    Und Frankfurt?
    Wozu, fragte Stefan. Franz ist verreist.
    Ich fahre nicht hin. Ich frag doch nur.
    Die beiden, dachte Irene, werden bis Weihnachten die Kerzenständer nicht verkaufen. Werden sie in Kisten packen und weiterziehn.
    Weihnachten, dachte Irene.
    Es war, wie wenn man Eingeweide über Tannen hängt.
    Ich muß verreisen, sagte Stefan.
    Er küßte Irene auf die Wange. Sie sah seinem Gesicht nach.
    Wenn ich zurück bin, werde ich mich melden.

    Vor dem Übergangsheim stand ein gelbes Schild mit einem rot durchgestrichenen Photoapparat.
    Eine Wohnung, sagte der Sachbearbeiter. Nächste Woche können Sie umziehn. Es ist ein Gerangel. Wissen Sie, Sie haben Glück gehabt. Das ist nicht so einfach.
    Er nannte einen Straßennamen. Der sagte Irene nichts. Und den Namen eines Stadtteils nannte er. Davon hatte Irene gehört. Wußte
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