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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
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der anderen Seite.
    Die Flottenstraße hatte die Härte der großen Häfen, der Eisenstangen, die sich in der Spiegelung des Wassers verdoppelten.
    Auf dem Bahndamm rosteten die stillgelegten Gleise. Knotige Bäume trieben Äste auf dem Boden unten, um den Stamm. Oben dürr und unten dicht belaubt. Es waren keine Bäume, keine Sträucher.
    Die Kaserne war ein Backsteingebäude. Hatte zwei Stockwerke. Schien doch zu hoch, wegen der roten Steine. Die eine Hälfte gehörte der Polizei. Die andere Hälfte war ein Asylantenheim.
    Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Ein Wasserkessel und ein Eisenschrank.
    Am Fenster ein Kran und Betonfertigteile. Die schaukelten. Wenn Irene Milch trank, schloß die Baustelle das Zimmer ein.
    In der Flottenstraße hatten die Menschen kein Geräusch in den Schritten. Und die Gesichter hatten in der Flottenstraße die Farbe alter Photos. Die dunklen Stellen an den Backenknochen, die dennoch oder gerade, weil sie so dunkel waren, blaß aussahen.
    Die Kleider waren in der Flottenstraße Almosen. Zwischen Hals und Schultern klaffte das Tuch.
    Irene kannte die billigen Schuhe aus den Kisten der Supermärkte. Sie hatte Männer und Frauen gesehn, die sich drängten und in den Kisten wühlten. Und Kinderdazwischen, die ihre Mütter und Väter wegziehen wollten. Und weinten.
    Irene hatte gesehn, wie die Männer und Frauen den einen, passenden Schuh gefunden hatten. Wie sie ihn über den Kopf hielten mit der einen Hand. Mit der anderen Hand weiter wühlten, im Haufen der auseinandergerissenen Paare.
    Und diese Entfernung blieb, von einem Schuh zum andern. Sie wuchs hinter den Rücken. Schloß auch die Schultern ein.
    Auch in den Augen stand diese Entfernung. Auch später, wenn die Asylanten nicht mehr in der Flottenstraße gingen. Wenn sie zur Post gingen, zu laut telefonierten, aus einem rauhen Teil der Stadt. Und in ein anderes Land auf Karten Lebenszeichen schrieben.
    Hinter der Kaserne fuhr die S-Bahn. Der Himmel stand senkrecht. Er schlug an die Wimpern. Die Stiegengänge waren wegen Bauarbeiten mit Holzwänden umstellt. Die waren verschmiert und verwinkelt.
    Auf dem Bahnsteig oben, der Wind. Darunter die Mauer.
    Das Licht war grell. Und der Sog war kalt.
    Irene sah noch einmal auf die Kaserne runter. Noch einmal auf den Bahndamm und das stillgelegte Gleis hinauf. Noch einmal auf die Mauer runter.
    Es war ein Bühnenbild für das Verbrechen.
    Ein Mann in Uniform ging mit dem Funkgerät den Bahnsteig entlang. Er musterte die Stille mit den Blicken. Er sprach in das Gerät. Hielt es beim Sprechen ganz nahe an den Mund. Er bewegte sich gleichmäßig. Er spürte den Sog nicht.
    Der Mann in Uniform war die erste Person des Stücks.
    Und Irene, sie zögerte sich mitzuzählen, war die zweite Person.
    Das Stück hieß wie die Haltestelle: Wilhelmsruh.
    Eine Wolke war dünn und zerbrochen. Sie kam aus dem anderen Teil der Stadt. Aus dem anderen Staat herüber.
    Zwei Grenzsoldaten standen hinter der Mauer. Auf dem kahlen Streifen, wo die Erde nichts taugte. Nicht einmal fürs Gras.
    Die Grenzsoldaten sprachen miteinander. Sie sahen der Wolke nach.
    Sie waren, da sie sich umdrehten und schauten, ob noch andre Wolken kamen, Personen des Stücks.
    Eine Uhr hing über dem Bahnsteig. Wo die Schienen zu einem Strang zusammenliefen, brannte ein grünes Licht.
    Das Urteil hatte zugeschlagen, bevor das Verbrechen begangen war.
    Das Paar küßte sich. Die U-Bahn rauschte in den Schacht. Das Paar küßte sich, ohne sich mit den Händen zu berühren. Die Lippen gespitzt, drängten zueinander.
    Die Küsse waren kurz. Die Augen blieben offen. Die Lippen trocken.
    In den Küssen war keine Leidenschaft. Auch nicht die Leichtigkeit wie im Spiel.
    In den Küssen war eine Klemme.
    Das Umsteigen war in den Küssen. Das Warten auf die nächste Bahn.
    Wie für Irene das Auf- und Abgehen, um nicht zu stehn.
    Um die Schuhe Asphalt. Um das Haar kalte Luft, die nicht still stand. Sie riß.
    In dieses kalte Flattern traten jedesmal, wenn sich beide Gesichter voneinander trennten, zwischen ihre Lippen, die gelben Kacheln des Schachts.
    Als die nächste U-Bahn kam, waren die beiden von den Wagen und vom Luftsog nicht mehr zu unterscheiden.
    Neben dem Zeitungskiosk stand eine Bank. Das Licht aus dem Kiosk fiel auf die Lehne. Die Frauen auf den Titelseiten der Zeitschriften lächelten nackt. Irene sah vor ihren Brustwarzen die Luft schlagen wie ein Tuch.
    Irene lehnte den Rücken an die Lichtstreifen der Bank. Sie schrieb eine
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