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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
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nicht, wo das lag.
    Er nannte viele Straßennamen. Und wie man dorthin kam, wo die Wohnung lag.
    U-Bahn und Bus, sagte er. Sie fahren doch gerne U-Bahn, nicht wahr. Mit dem Bus, Sie müßten öftermit dem Bus fahren, da sieht man was. Sie kennen die Stadt noch nicht. Da, wo Sie herkommen, gabs da eine U-Bahn.
    Nein.
    Das hab ich mir gedacht, sagte er.
    Die Falte mitten auf der Stirn, die Querfalte, wurde tief. Ähnelte dem Filz, an der Stelle, wo sein Hut ein bißchen eingedrückt war. Jetzt lag er auf dem Schreibtisch. Die Krempe, so lang wie ein Finger, bedeckte den Tischrand. Oder ein Taxi, sagte er, Sie nehmen am besten ein Taxi.
    Ja, sagte Irene, ich nehme am besten ein Taxi.
    Und dann melden Sie sich beim Hauswart, sagte er. Er weiß, daß Sie kommen. Haben Sie viel Gepäck.
    Einen Koffer, sagte Irene.
    Möbel.
    Nein. Na, dann kaufen Sie sich bald ein Bett.
    Er lachte:
    Die beste Erfindung der Menschheit ist das Bett.
    In der U-Bahn saß eine Frau in Stiefeln. Eine Frau in Sandalen stand neben ihr.
    Es ist das langsame Entgleiten aller Jahreszeiten, dachte Irene.
    Es mußte eine Überlegung geben vom Bett zum Kleiderschrank. Eine innere Vorstellung vom Tag.
    Vielleicht hing diese Vorstellung zusammen mit dem Schlaf, dachte Irene. Mit der Wärme der Haut. Mit der Farbe der Fußböden vielleicht, auf die das Licht fiel. Mit der Himmelsrichtung, oder mit der Nähe eines Parks. Vielleicht mit einer Autobahn. Oder mit der Nähe einer Brücke. Oder mit einem Buch.
    Das wird sich herausstellen, wenn ich eine Wohnung hab.

    Draußen auf der Fahrbahn waren die einzelnen Geräusche nicht voneinander zu unterscheiden. Die Fahrbahn wurde selbst zum Lärm.
    Oben Frost. Unten ein sich drehendes Getriebe.
    Der Frost hielt sich in der Stadt an einzelnen Stellen auf. Er verließ diese Stellen nicht. Die Stellen waren nicht zu erkennen, bevor man sie betrat.
    Nicht Straßenecken, Kreuzungen oder Brücken waren die Stellen. Sondern Orte, wo man Schutz vermutete.
    Die Stellen waren die Nähe der Bäume.
    Unter einem Baum stand eine Frau. Sie rief: Leo. Sie schlug den Mantelkragen hoch. Sie legte die Hand an den Stamm. Die Spanne zwischen ihrem Daumen und ihrem Zeigefinger war auf der Rinde des Baumes so groß, als hätte die Frau diese Entfernung immer in der Hand. Auch, wenn sie die Finger schloß.
    Die Frau sah kurz in die Äste hinauf. Ein Hund kam auf sie zugelaufen. Der Hund atmete laut.
    Komm, mein Schatz, sagte die Frau. Und sie atmete lauter nach diesem Satz.
    Der Hund und die Frau waren an der kalten Stelle unter dem Baum gleich müde.
    Irene schloß beim Gehen die Augen. Sie stolperte und erschrak.
    Der Stelle, an der Irene gestolpert war, war nichts anzusehen. Sie war weder höher noch tiefer als die Straße selbst.
    Über die Brücke fuhr ein Polizeiauto. Die Sirene drohte. Und weiter unten, zwischen kahlen Bäumen, hörte sich das Heulen wie ein Glücksgefühl der Sirene an: irgendwo in der Stadt floß Blut.
    Wo haben Sie bisher gewohnt, fragte der Hauswart.
    Im Asylantenheim.
    Wo kommen Sie her.
    Irene nannte den Namen des anderen Landes.
    Wen haben die dort.
    Irene nannte den Namen des Diktators.
    Von dem hört man nichts Gutes, sagte er.
    Er ging voraus durch den Innenhof. Irene sah den kahlen Holunder und das Gras. Die Fenster sah Irene blinken. Sie waren geschlossen. Gardinen. Auf einem Balkon drehte sich ein Rad aus weißem Papier. Es quietschte am Stock. Das hörte Irene, weil es so still war im Innenhof.
    Seit wann sind Sie hier.
    Irene zählte nach, seit wann sie hier war. Er taxierte Irene. Mit den Schuhen hatte er begonnen. Und wenn er was sagte, dachte er nicht an die Sätze aus seinem Mund. Er sagte und fragte, als wäre das alles zum Anschauen und wieder Gehen. Und schaute, wen er da hatte.
    Da kamen Gedanken in Irenes Kopf und gingen. Und keiner hatte was mit ihr zu tun. Ihr Koffer stand neben dem Stiegenhaus, warf einen Schatten neben die Tür. Und kein Gedanke drängte Irene zum Bleiben. Und keiner zum Gehn.
    Der Hauswart hatte Irene den Schlüssel für den Müll in die Hand gedrückt.
    Irene trug den Koffer durchs Stiegenhaus hoch.
    Dann ging ein Flur durch sie hindurch. Dann eine Küche. Dann ein Bad. Dann ein Zimmer. Alles leere Wände. Daß ein Herd in der Küche stand, merkte Irene erst später. Und, daß auf dem Herd ein Einweckglas mit Salz stand, erst, als der Hauswart gegangen war.
    Der Koffer stand lange geschlossen im Flur, als wäre Irene nur halb am Leben. Sie konnte nicht denken, nicht
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