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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
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Bahndamms gesehen. Franz hatte auf dem Boden neben dem Eingang gesessen. Seinen Kopf an einen Stuhl gelehnt.
    Franz hatte mehr gelegen als gesessen. Die Rockband spielte laut. Die Musik betäubte. Franz war betrunken gewesen.
    Der Betrunkene sprach mit halbgeschlossenen Augen und sah mit offenem Mund den Himmel an. Vor seinem Gesicht standen die Beine der Dorfkinder. Die waren zerkratzt vom Gestrüpp. Und barfuß waren sie.
    Der Betrunkene sprach deutsch mit den Kindern. Und sprach mit sich selbst.
    Die Kinder beteiligten sich an seinen schlaffen, halben Sätzen. Lehnten seinen Kopf in der Sprache des anderen Landes an einen Strauch. Blickten um sich, als sie das taten.
    Es war eine Nähe gewesen in zwei Sprachen, die sichnicht verstanden. Eine Nähe zu einem Ausländer. Eine Nähe, die verboten war.
    Die Kinder kicherten unsicher. Ein wenig schadenfroh, ein wenig traurig, weil sie einiges noch nicht begriffen. Doch wußten sie, daß dieser Ausländer mit seiner Betrunkenheit bezahlte für die Schönheit an ihrem Meer.
    Manchmal fuhren lange Güterzüge am Dorf vorbei. Klapperten in die Nacht und betäubten die Musik.
    Dann riefen Mütter. Die Kinder überließen den Betrunkenen sich selbst, dem Boden, dem Stuhl und dem Strauch. Liefen, ohne sich umzudrehen, neben dem Bahndamm ins Dorf. Es war längst dunkel gewesen.
    Die Musiker packten die Instrumente in Köfferchen. Nur die Trommel blieb zwischen den Tischen stehen.
    Was geschieht mit dem Ausländer, fragte der Trommler.
    Er zeigte auf den Betrunkenen, strich sich mit dem Trommelstock das Haar aus der Stirn. Steckte die Trommelstöcke in die Rocktasche und ging auf den Ausgang zu.
    Komm, sagte er zu Irene. Komm schon, es reicht.
    Und Irene ging quer durch die Kneipe.
    Und kam nicht.
    Irene ging zu dem Betrunkenen hin.
    Komm, sagte Irene, komm, steh auf. Du mußt weg von hier, gleich kommt die Polizei. Hörst du.
    Irene stellte den Betrunkenen an den nahen Baum. Drückte seine Beine an den Stamm, damit er nicht umfiel.
    Mensch. Du, sagte Irene.
    Reichte nicht zu seinen Schultern hin, da er so groß und schwer war, als er stand.
    Weshalb tust du das.
    Der Betrunkene tat nichts. Wankte und wankte.
    Wo wohnst du, sag, wo du wohnst, ich bring dich dorthin.
    Sein Gesicht war schmal. Er schaute Irene mit offenem Mund in die Augen.
    Gott, wo wohn ich. In Marburg, sagte er.
    Irene lachte und seufzte. Hielt ihn am Hosenriemen fest, weil er so schwer war und wankte. Und viel jünger als sie. Und seine Schuhe voll mit Sand. Und die Straßen so krumm.
    Komm nach Marburg, sagte Irene.
    Er schlug um sich.
    Nein, nicht nach Marburg.
    Nicht nach Marburg, sagte Irene. Komm ins Hotel. Wo ist dein Hotel.
    Hohe Wohnblocks standen am Wasser. Hotels für Ausländer mit Blick aufs Meer. Fenster mit Blick in die Ferne. Da durfte Irene nicht hin.
    Der Betrunkene fand das Hotel. Fand den Schlüssel. Fand den Fahrstuhl. Der Nachtportier telefonierte. Irene las die Zahl auf dem Schlüsselbund und fand das Zimmer. Knipste das Licht an, neben der Tür.
    Auf dem Tisch lag ein Buch: Der Teufel auf den Hügeln.
    Der Betrunkene riß das Fenster auf. Irene legte ihn auf eines der beiden Betten.
    Heißt du Franz. Die Kinder nannten dich so.
    Er verstand den Sinn der Frage nicht. Er schwieg.Graue Augen, Zähne, die an die Lippen drückten, der Rand der Schneidezähne wie eine dünne, weiße Säge.
    Ich bin besoffen, aber du sprichst deutsch. Du bist nicht besoffen, wieso sprichst du deutsch.
    Irene ging zum Fenster. Schaute hinaus.
    Ich sag es dir morgen.
    Franz wußte nichts mehr von sich. Nicht einmal, daß er schlief und daß sein Mund offen stand und trocken war und die Lippen so rauh wie die Brocken an der Küste.
    Irene sah den Vorhang zu Boden hängen. Starrte hinaus, auf die Fläche, die schwarz zwischen Himmel und Wasser lag. Franz bewegte die Hände im Schlaf. So, schlafend, so beleuchtet, sah sein Gesicht abwesend aus auf dem weißen Bett.
    Sehnsucht überkam Irene. Und es war keine. Es war ein Zustand der leblosen Dinge. Der Steine, des Wassers. Der Güterzüge und Türen, der Fahrstühle, die sich bewegten.
    Auf der schwarzen Fläche draußen lagen die schneidigen Bahnen der Nacht.
    Irene spürte am Wind im Gesicht, daß das Zimmer hoch oben lag. Die Sterne stachen in ihre Stirn. Das Wasser tobte weit unten.
    Nein, sagte Irene zum Fenster hinaus.
    Sie ging zum Waschbecken. Sie trank kaltes Wasser aus der Hand. Sie knipste das Licht aus. Legte sich wie Franz in den Kleidern auf das andere
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