Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
Vom Netzwerk:
piepste auf der Rocktasche eines Mannes im Anzug. Der Mann im Anzug hob die Arme hoch und drehte sich. Er hielt seine Bordkarte im Mund.
    Als er in den Warteraum trat, sahen ihn alle an. Er schaute, nachdem er sich gesetzt hatte, in die Kabine. Dort wurde ein anderer Mann im Anzug kontrolliert. Beim Zuschauen korrigierte der Mann seine Sitzhaltung.
    Das Flugzeug sei nun zum Einsteigen bereit, sagte eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher.
    Irene fragte sich, mit welchem der Männer, die einzeln aufstanden, sie schlafen könnte. Schaute die Männer im Hinblick auf diese Frage noch einmal an. Sah an jedem, zum Unterschied von vorher, etwas Abstoßendes.
    Den älteren Männern hingen die Schatten der Karriere um die Augen. Ihre Gesichter hatten sich jahrelang behauptet. Daß sie dabei gealtert waren, beruhigte Irene.
    Irene sah einen älteren Mann, der einen dicken Goldring am kleinen Finger trug. Sie stellte sich vor,im Bett zu liegen und auf diesen Mann zu warten. Sie sah, wie der Mann sich auszog. Wie er den Rock auf die Stuhllehne hängte. Die Hose auf die Sitzfläche legte. Das Hemd über den Rock hängte. Wie er die Unterhose und die Socken, da er gewohnt war, sie zu verachten, auf den Teppich, unter den Stuhl fallen ließ. Wie er sich dem Bett näherte und merkte, daß er vergessen hatte, die Brille abzunehmen. Wie er diese Vergeßlichkeit benutzte, um den Goldring vom Finger zu ziehen und neben die Brille auf den Tisch zu legen.
    Irene hörte sich sagen: Der Goldring muß dabei sein, wenn du das tust.

    Das Förderband summte leer. Die Koffer kamen noch nicht. Irene schaute durch die Scheibe auf die Landefläche hinaus. Ihr Kopf war schwer, als wären die Wolken zu nahe gewesen. Als wären graue, zerwühlte Wolken durch ihren Kopf gezogen.
    Dann hatte Irene den Verdacht, daß sie die Geschichte mit dem Mann, der Brille und dem Goldring nur erfunden hatte, weil die Ahnung bis in die Fingerspitzen reichte, daß das Gesicht von Franz jetzt hinter der Tür stehen würde. Und fern bleiben würde, auch wenn Irene ganz nahe vor seinen Lippen stand.
    Franz war nicht da. Sein Gesicht stand nicht neben dem Ausgang.
    Neben dem Ausgang sah sie einen Mann, der ein Schild vor der Brust hielt. Auf dem Schild stand: Irene.
    Irene sah zu Boden mit dem Gefühl, daß es ihren Namen zu oft gab und daß sie nicht gemeint war.
    Und der Frau, die erwartet wurde, wollte Irene Zeitlassen. Sie wollte sehen, wie sie zuging auf den Mann. Und wie sie aussah.
    Irene hörte das Förderband summen. Die Passagiere waren alle an ihr vorbeigegangen.
    Irene versuchte sich zu erinnern, wann das war, daß sie zum ersten Mal etwas nicht ausgehalten hatte. Und ob sie damals geahnt hatte, daß sich das fortsetzen und immer neu ergeben würde. Und, ob sie damals überlegt hatte, was sie mit sich tun sollte, wenn sie etwas nicht aushielt.
    Da fiel Irene einer der Sätze aus Büchern ein. Ein Satz, den sie jahrelang mit sich herumgetragen und verwandelt hatte: Aber ich war nicht mehr jung.
    Es war wie so oft, wie gewöhnlich, wie immer, wenn etwas vorbei war: am Gaumen stand ein Wunsch. Irene kannte ihn nicht. Wußte nur, daß er etwas vor ihr verbarg.
    Ein Nachgeschmack hatte Irene eingehüllt.
    Ja, es war wie gewöhnlich, wenn etwas vorbei war: zu spät schälten sich Bilder heraus, grau in grau, und wehten sich an. Und eine Spur davon war im Kehlkopf steckengeblieben.
    Irene sah ein weites, leeres Gelände mit weißen Markierungen.
    Eine seltsam eingeteilte Wiese, auf der sich durchs Gras, es war gelb und verweht, zwei Männer im Anzug aufeinander zu bewegten. Sie gingen langsam, ungewollt im Gleichschritt. Sie gingen, ohne sich auf die Begegnung zu freuen. Als sie sich näher kamen im Gehn, taten sie so, als würde einer den anderen nicht sehen.
    Als ihre Schuhspitzen voreinander standen, sich fastberührten, umarmten sie sich, einer über die Schultern des anderen ins Leere blickend.
    Ohne Regung standen sie in der Umarmung. Die war wie eine kleine, tägliche Verrichtung, die man nicht wahrnimmt.
    Irene erkannte das eine, ihr zugewandte Gesicht.
    Es war das Gesicht des Diktators, der sie vertrieben hatte aus dem anderen Land.
    Kurz hob der Diktator den Blick. Er schaute Irene an.
    Irene entfernte sich mit dem Rücken voraus, um das Gesicht des Diktators nicht aus den Augen zu verlieren.
    Je weiter sich Irene entfernte, je näher zog der Diktator den Unbekannten an sich.
    Da kam das Schild mit ihrem Namen auf Irene zu. Und der Mann hinter dem Schild
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher