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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
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mich auf solche Gedanken.
    Wieso. Du irrst dich.
    Stefans Stimme wurde leise:
    Diesmal nicht. Thomas ist mit dir zufrieden. Auch nach einem welken Apfel.
    Irene hörte sich atmen. Die Zahlen auf der Wählscheibe flirrten.
    Frierst du, fragte Stefan.
    Irene legte auf. Ihr Blick war so hart, daß er im eigenen Gesicht schmerzte, den Fußboden entlang die Telefonschnur anschaute, bis zu der Stelle, wo sie in die Wand kroch.
    Der Schatten des Lampenschirms auf dem Tisch. Das Glänzen der Türklinke. Der Schatten des Schlüssels an der Tür.
    Die Uhr tickte. Mitternacht war längst vorbei. Da konnte Irene das Zifferblatt und die Wählscheibe nicht mehr auseinanderhalten. Beides war eine Zielscheibe. Alles, was Irene denken konnte, eine Taubenfeder: hellgrau und leicht gewölbt hinter der Stirn.
    Irene sah das beleuchtete Fenster im Innenhof. Die Frau ohne Bluse sprach nicht. Sie saß bloß und schaute.
    In der Berührung zwischen Irenes Blick und dem leuchtenden Fenster lag Kälte und Starrsinn. Und eine angestrengte Stille.
    Um auszuweichen, ging Irene zum Schrank. Sie sperrte die Schranktür mit dem Schlüssel zu.
    Der Wunsch zu schlafen war wie eine Sucht.
    Und der Wunsch, weit weg zu fahren. Aus dem Abteil durchs Fenster zu sehn, in den Sog der Landschaft hinein, die sich in grünen Schlieren wegdrehte und verschwand. Und Menschen im Abteil, die zustiegen. Die aßen und schliefen. Die nichts von sich preisgaben. Die ausstiegen an großen Bahnhöfen, unschlüssig dastanden, eine Weile im Lärm. Die zögernd, zwischen Wartenden hindurch, in die Städte gingen.
    So zögernd, daß man, nachdem sie längst verschwunden waren, nicht wußte, weshalb sie in zerdrückten Kleidern im Wind gestanden hatten. Vermuten oder ahnen konnte, daß sie, die Tasche unterm Arm, die Parkplätze verloren überquerten. An Schaufenstern vorbeigingen, ohne hineinzusehn. Wie Gestrandete am Ufer fremder Flüsse auf nassen Bänken saßen. Auf Treppen unter Denkmälern ins Leere sahen.
    Menschen, die nicht mehr wußten, ob sie nun in diesen Städten Reisende in dünnen Schuhen waren. Oder Bewohner mit Handgepäck.
    Irene lag im Dunkeln und dachte an die Stadt.
    Irene weigerte sich, an Abschied zu denken.

Über die Autorin

    Herta Müller

    1953 in Nitzkydorf/Rumänien geboren, lebt seit 1987 als Schriftstellerin in Berlin.

    Bei Hanser erschienen:

    Der König verneigt sich und tötet (2003), Die blassen Herren mit den Mokkatassen (2005), Herztier (Neuausgabe, 2007), Der Fuchs war damals schon der Jäger (Neuausgabe, 2009) und zuletzt Atemschaukel (2009). Für ihre Werke wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Sie ist die Literaturnobelpreisträgerin 2009.

    Daten, Fakten, Jahreszahlen

    1953 geboren im deutschsprachigen Nitzkydorf, Rumänien
    1973-1976 Studium der deutschen und rumänischen Philologie in Temeswar
    Nach dem Studium arbeitet sie als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik.
    Sie wurde entlassen, weil sie sich weigert für den rumänischen Geheimdienst Securitate zu arbeiten. Ihr erstes Buch Niederungen lag danach vier Jahre beim Verlag und wurde 1982 nur zensiert veröffentlicht. 1984 erschien es in der Originalfassung in Deutschland. Herta Müller konnte danach in Rumänien nicht mehr veröffentlichen und war immer wieder Verhören, Hausdurchsuchungen und Bedrohungen durch die Securitate ausgesetzt.
    1987 Übersiedlung nach Deutschland
    1989-2001 Gastprofessuren an Universitäten in England, Amerika, Deutschland und der Schweiz
    seit 1995 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt
    2005 Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik an der FU Berlin
    Herta Müller lebt in Berlin.

    Auszeichnungen

    • 2010 Hoffmann-von-Fallersleben-Preis
    • 2009 Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft Düsseldorf
    • 2009 Nobelpreis für Literatur
    • 2009 Franz-Werfel-Menschenrechtspreis
    • 2006 Walter-Hasenclever-Literaturpreis
    • 2005 Würth-Preis für Europäische Literatur
    • 2005 Berliner Literaturpreis
    • 2004 Konrad-Adenauer-Preis
    • 2003 Joseph-Breitbach-Preis
    • 1999 Franz-Kafka-Literaturpreis
    • 1998 Ida-Dehmel-Literaturpreis
    • 1998 International IMPAC Dublin Literary Award
    • 1997 Franz-Nabl-Preis
    • 1995 Prix Aristeion
    • 1994 Heinrich-von-Kleist-Preis
    • 1992 Kritikerpreis des SWF
    • 1991 Villa Massimo-Stipendium
    • 1989 Marieluise-Fleißer-Preis der Stadt Ingolstadt
    • 1987 Ricarda-Huch-Preis
    • 1984 Aspekte Literaturpreis

    Bibliographie

    2010
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