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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
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sagte Stefan.
    Frauen, die zuviel Brot essen, kriegen Kinder, sagte Irene.
    Weshalb kannst du mit Kindern überhaupt nicht umgehen, fragte Stefan.
    Ohne nachzudenken, sagte Irene: Sie sind mir unheimlich, weil sie noch wachsen.
    Erst nach diesem Satz fragte Irene sich, woher Stefan wußte, daß sie mit Kindern nicht umgehen konnte. Erst nach diesem Satz merkte Irene, wie gerne sie das versteckt hätte.
    Stefan lachte ohne Stimme.
    Aus Stefans Augapfel kroch eine rote Ader in die Nasenwurzel.
    Ich habe Angst, wenn sie spielen, sagte Irene.
    Das Licht in der Kneipe war trüb. Der Rauch zog sich zusammen unter den Lampenschirmen.
    Alle tun so, als liebten sie Kinder, sagte Irene.
    Stefan hob das Glas an den Mund:
    Warst du ein Kind. Wenn man dich ansieht, ist das nicht mehr sicher.
    Irene sah durch die Scheibe. Von der Straße drangen Geräusche herein, ein Rieseln, ein Schürfen, ein Treiben.
    Ich war ein Kind, sagte Irene. Nicht schön und nicht gut. Ich wurde geliebt. Ich mußte nur spielen und wachsen. Ändern mußte ich mich nicht.
    Ich glaube, es regnet, sagte Stefan.
    Oder wirft jemand mit Sand, sagte Irene, es ist spät. Ich wurde aus Liebe geschlagen.
    Irene wußte, daß ihre Angst vor Kindern größer geworden war. Größer, seitdem sie hier lebte.
    Ein Kind war selten allein auf der Straße.
    Zu dritt oder zu fünft liefen Kinder hintereinander her. Wenn sie unter sich waren, stellten sie ihre Fahrräder auf den Kopf. Wenn Unbekannte auf sie zukamen, schepperten sie an den Briefkästen oder peitschten mit dürren Ästen die Wände und die Straße.
    Die Geräusche schmerzten. Es war wie ein Bedauern der Fahrräder, Briefkästen und dürren Äste, was Irene empfand.
    Irene wich den Kindern aus. Sie überquerte Straßen an verbotenen Stellen, um ihnen nicht zu begegnen.
    Die Kinder merkten Irenes Angst. Sie riefen hinter ihr her. Meist verstand Irene nicht, was sie riefen. Doch der Tonfall war überlegen. Das verstand Irene.
    An einem Sonntagnachmittag war die Straße leer wie eine Kirche. Vor einem Toreingang spielten Kinder. Irene konnte nicht ausweichen und hatte das Gefühl, eine verbotene Stelle zu betreten. Die Kinder spielten wie stumme Figuren.
    Irene ging rasch. Spürte, wie ihre Wangen heiß wurden.
    Nutte, sagte der Junge. Zwei Mädchen hoben ihre Puppen vor das Gesicht und lachten.
    Irene blieb stehn. Sah unter den Röcken der Puppen seidene Höschen.
    Lieber eine Nutte als ein Faschist, sagte Irene und erschrak.
    Der Junge war nicht älter als fünf. Er wiederholte das Wort: Faschist.
    In dieser Nacht trug Irene in der Spanne zwischen Stirn und Mund, auf dem Kissen, Leute zusammen, die sich nicht kannten. Der Arbeiter, den Irene sich ausgesucht hatte, Franz, Thomas und Stefan saßen an einem Tisch im Fischrestaurant.
    An den Wänden hingen Bilder in schwarzen Rahmen. Viele Rahmen und viel zu viele Abbildungen in einem Rahmen. Es waren Meerestiere, schwarzweiß, so dicht gedrängt, wie aufeinander losgelassen mit gezackten Scheren und gefiederten Zangen.
    Wenn man lange hinsieht, sagte Franz, als Irene das Fischrestaurant betrat, merkt man, daß einige tot sind und einige leben.
    Es roch nach Levkojen und Fisch im Raum.
    Als Irene sich an den Tisch setzte, merkte sie, daß eine Frau dasaß, die so aussah wie sie selbst. Sie hatte die gleichen Gesichtszüge. Doch das Gesicht als Ganzes hatte einen sonderbaren Ausdruck. Es war die andere Irene. Sie hatte eine tiefe Stimme. Sie aß Thunfischsalat.
    Als ich klein war, sagte die andere Irene mit ihrer tiefen Stimme, hab ich immer gehört, daß die Liebe rot ist, die Treue blau und die Eifersucht gelb. Damals hab ich die Welt verstanden.
    Und die Hoffnung grün, sagte der Arbeiter.
    Die Hoffnung ist scharenweise grün, sagte Franz. Von wem ist das.
    Er sah Irene an.
    Ich weiß nicht.
    Von mir.
    Der Arbeiter lachte.
    Die Salatblätter waren vom Essig schlaff.
    Was hindert dich daran, das weiterhin zu tun, fragte Stefan.
    Die andere Irene griff dem Arbeiter an den Bauch:
    Die Jahre, nichts als die Jahre.
    Der Arbeiter küßte ihre Hand:
    Ein Mann ohne Bauch ist ein Krüppel, Madam.
    Irene saß zwischen Thomas und Franz. Sie trank Apfelsaft. Für mich heißt reisen immer noch frieren, sagte sie. Ach, dieser Sommerfrost. Kaum hab ich den Bahnhof verlassen, merk ich, wie mir Asphalt durch die Zehen rinnt. All die Schuhe mit ledernen Rosen. Die nackten Armhöhlen der Frauen, in denen sich die Stadt zusammenzieht. Ich weiß, es ist nur Einbildung, nur
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