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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
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ging, wußte sie, daß sie draußen, auf den Straßen, mit dem roten Licht der Ampeln spielen würde.
    Es bahnte sich, da Irene das wußte, eine Trägheit in ihr an. Die war schläfrig und wachsam zugleich.
    Irene merkte ihrem Körper an, daß er darauf eingestellt war, lange zu leben: Da wollte sich Irene in die Enge zwingen, in der das Leben nicht mehr sicher war.
    Sie überraschte sich dabei, daß sie auf das Schlimmste gefaßt war und mit der Unvorhersehbarkeit der kleinsten Dinge nicht zurechtkam.
    Du, schrieb Irene, jeden Morgen steh ich auf mit der Gewißheit, etwas Falsches zu tun. Hätte ich diese Gewißheit nicht, würde ich liegenbleiben, die Decke anschauen und warten. Wenn der Morgen ein Gespräch wär, eine Apfelsine oder eine Zeitung, könnte ich ihn gebrauchen. Dann geh ich in die Stadt. In den schönsten Häusern ist jemand gefoltert worden. Ich kann mich nicht freuen, daß es sie gibt. Die deutschen Witwen haben eckige Gesichter und gekräuseltes Haar wie Schnee und Stahl.
    An der Mauer hausen in Erdlöchern Kaninchen. Die machen mir mehr Angst als die Gewehre. Es sind verwandelte Tote. Feldbraun. Man sieht sie nur, wenn sie laufen. Dann sind ihre Augen größer als ihr Bauch. Seit ich hier lebe, ist das Detail größer als das Ganze. Das macht mir nichts aus. Nur den Dingen, die zeigen das nicht gern.
    Als Irene die Anschrift von Franz auf die Karte schreiben wollte, war ihre Hand schlaff.
    Sie schrieb die Anschrift von Thomas.
    Als Irene durch den Innenhof ging, stand der Arbeiter, den sie sich ausgesucht hatte, nicht auf dem Gerüst. Er stand neben der Wand, im Gras. Irene sah sein Gesicht. Birnenhaut mit kleinen schwarzen Punkten. Birnen, die sehr reif waren. Und seine Augen waren grün.Oder waren es Holunderblätter mit Wangen darunter und Schläfen daneben. Und eine Unruhe, die aus dem Augapfel trat und sich wieder zurücknahm.
    Die Betonmischmaschine drehte sich.
    Du lebst allein, sagte der Arbeiter.
    Wieso.
    Du stehst am Fenster. Du kommst und gehst allein.
    Du kommst doch auch allein, sagte Irene.
    Ich komme zur Arbeit.
    Stehst du nie am Fenster.
    Eine Weile vielleicht, wenn ich lüfte.
    Er zeigte hinauf zum Gerüst:
    Die haben gewettet, daß du gleich am Fenster stehst. Die wetten jeden Tag.
    Und.
    Und du stehst jeden Tag am Fenster. Wie gerufen, stehst du am Fenster, wenn sie gewettet haben.
    Ihr beobachtet mich, sagte Irene.
    Und du uns.
    Habt ihr noch viel zu tun.
    Das sieht man doch, wenn man am Fenster steht.
    Der Arbeiter griff in die Rocktasche. Er schaltete das rote Radio an.
    Die Mörteltrommel drehte sich.
    Aus der Tasche des Arbeiters kam symphonische Musik.
    Einmal war ein Mann mit einer Reisetasche da.
    Und ist bald abgereist, sagte Irene.
    Ich weiß, sagte der Arbeiter.
    Um vierzehn Uhr und acht Minuten.

    Am Morgen lag eine Feder im Bad. Sie war hellgrau und leicht.
    Muß von den dunkleren Federn der Flügel bedeckt gewesen sein, dachte Irene.
    Sie drückte Zahnpasta aus der Tube. Legte die Zahnbürste auf den Rand des Waschbeckens.
    Irene nahm die Feder. Schaute auf den Grund der Badewanne. Ein Schamhaar schlängelte im fließenden Wasser. Ein Kopfhaar klebte am Rand. Das Schamhaar und das Kopfhaar in der Wanne. Die Feder zwischen Daumen und Zeigefinger.

    Irene strich sich mit der Feder über den Hals. Sie war weich. Das Wort Taubenmörder fiel Irene ein.
    Sie schrieb Taubenmörderin auf eine Karte. Steckte die Karte und die Feder in einen Umschlag. Sie schrieb ihre eigene Anschrift auf den Umschlag.
    Als Irene vom Briefkasten kam, ging sie ins Bad. Die Zahnpasta auf der Zahnbürste und die Zahnbürste auf dem Rand des Waschbeckens beunruhigten sie.
    Als Irene am Nachmittag aus der Stadt kam, lag eine Feder im Zimmer, neben der Blumenvase.
    Die Feder war dunkler und härter als die Feder im Bad. Irene legte sie auf den Schreibtisch.
    Am Abend sagte der Hauswart im Stiegenhaus:
    Sie sollten, wenn Sie weggehen, die Fenster schließen.
    Vor dem Schlafengehen legte Irene die Feder in den Schrank zwischen die Kleider.
    Nachdem das Telefon fünfmal geläutet hatte, sah Irene den Hörer in ihrer Hand wie von weitem.
    Irene fühlte sich von Stefans Stimme ertappt. Die fragte:
    Was tust du.
    Und die Stimme war näher als Irenes eigener Mund.
    Nichts. Weshalb kommst du immer abends auf mich zurück.
    Am Tag redest du, oder hebst du nicht ab. Oder du hebst ab und legst auf.
    Müssen alle Männer schwul sein, fragte Stefan.
    Irene schluckte:
    Wer hat das gesagt.
    Niemand. Du bringst
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