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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
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dunkel.
    Die Männer wischten die Brotkrumen von den Bänken. Erhoben sich und schüttelten die Kleider. Und gingen. Sie gingen nacheinander, als ließe einer dem anderen Zeit zu verschwinden.
    Als der letzte gegangen war, war der Platz so ruhig, als wäre keiner dagewesen. Als wachse das Brot aus dem Steinrand.
    Dann kamen die Vögel in Scharen. Fraßen, nippten am Wasser. Flogen weg. Setzten sich aufs Denkmal. Schauten. Kamen wieder.
    Einen der Vögel erkannte Irene. Er hatte schon dreimal gefressen. Er hatte eine kahle Stelle am Schenkel. Seine Haut war an dieser Stelle so grau wie seine Federn. Sein Schenkel war nicht größer als das Bein einer Grille.
    Das Licht versank und war schwer.
    Die Vögel blieben leicht. Sie fraßen in ein paar Augenblicken mehr, als ihre Körper groß waren.
    Das Wasser plätscherte.
    Irene fühlte sich von außen alt und von innen unmündig.
    Das Kopfsteinpflaster lag schief. Irene ging, als wäre sie ein Steinhaufen, der sich aufrichtete und zusammenschmiß.
    Dinge, die gar nicht sein konnten, redete sie sich ein. Und Dinge, die nicht verschwinden konnten, redete sie sich aus.
    Zu diesen Dingen gehörte auch Franz. Ja, zu den Dingen. Denn mit den Menschen kann man umgehen. Und Irene konnte mit Franz nicht umgehen.
    Für einen Augenblick ließ Irene Franz verschwinden.
    Doch dann mußte sie wieder mit dem Rand eines Gedankens an Franz denken, nur seinen Namen streifen, und die Unmündigkeit war wieder da.
    Die Schuld dafür schob Irene dem anderen Land zu. Dem Meer, dem Bahndamm und der Zeichnung aus Sand mit dem Steinchen wie Marburg. Die Überschwenglichkeit der Wünsche und die Kargheit der äußeren Dinge hatten sich überlagert. Was sich nie begegnen durfte, es war einunddasselbe gewesen in dem anderen Land.
    Auch Irene und Franz. Und dieser losgelöste Sommer.
    Irene fühlte sich über Jahre hin genarrt. Herausgefordert und betrogen.
    Warten, hatte Franz bei seinem letzten Besuch gesagt, was verstehst du darunter.
    Ich wußte, daß duirgendwann kommst. Also habe ich gewartet.
    Wolltest du mehr. Offensichtlich, hatte Franz gesagt, wolltest du mehr. Du wolltest Sehnsucht, denn du hattest deine. Jetzt bist du hier. Und ich bin da, in diesem Zimmer. Und deine Sehnsucht ist die gleiche, als ob du nicht hier wärst und ich nicht da.
    Du hast die Sehnsucht der Kinder, hatte Franz gesagt, Wünsche, die nicht wissen, was sie meinen.
    Irene war hart geworden. Konnte sich, wenn sie mit Franz war, nicht gehen lassen.
    Als schneide sie einen Stoff zu, als nähe sie ein Kleid aus ihrer Haut, so genau wußte Irene, wenn sie mit Franz war, was geschah. Was nicht geschah.
    Die kleinen Griffe zwischen Haut und Haut stellten sich nicht ein.
    Wenn Irene etwas mitriß, dann war es ein Zahnrad. Eine vertrackte, stoßende Maschine war es.
    Irene stellte sich jedesmal, wenn sie eine Ansichtskarte kaufte, das Gesicht von Franz vor.
    Karten, die das Gesicht von Franz nicht zuließen, die das Gesicht, wenn es schon da war, vertrieben, kaufte Irene nicht.
    Was Irene auf die Rückseite der Karten schreiben würde, bestimmte sich von selbst.
    Das Auswählen der Karten war Irene überlassen. Durch Franz.
    Manche Orte der Stadt waren von Franz besetzt. Irene hatte an diesen Orten an Franz gedacht. Wenn sie diese Orte wieder betrat, fiel ihr ein, daß sie hier an ihn gedacht hatte. Auch, was sie gedacht hatte, fiel ihr ein.
    Deshalb konnte Irene an diesen Orten keine Karten schreiben, ohne dasselbe zu schreiben. Und was Irene Franz schon mal geschrieben hatte, wollte sie nicht wieder schreiben.
    Die besetzten Orte mischten sich so sehr in ihre Gedanken ein, daß kein Freiraum für neue Gedanken blieb.
    Irene mußte diese Orte bei ihren Gängen durch die Stadt meiden, ihnen so lange ausweichen, bis eine andere Jahreszeit kam.
    Dann waren die Orte wieder fremd geworden. Oder nicht mehr bekannt. Sie bewahrten den Abstand zu Irenes Gedanken. Neue Zufälle waren da. Franz hatte diese Orte wieder geräumt.
    Es war ein Kommen und Gehen der besetzten und geräumten Orte. Das verband Irene mit Franz und trennte sie von ihm. Das war ein Zusammenhang zwischen Irene und der Stadt.
    Doch, er war mühsam, der Zusammenhang, oft zwischen Stadt und Schädel so verstreut, daß Irene ihn erfinden mußte.
    Die von Franz besetzten Orte waren überfüllt mit getarnten, plötzlich auftauchenden Dingen.
    Umwege, dachte Irene, Franz benutzt Umwege, um aufzutauchen und um zu verschwinden.
    Daß Irene das Gesicht von Franz, wenn er die
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