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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
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laut und eindringlich an ihren dünnen, frechen, von harten Gegenständen oft verletzten Fingern die Zahlen mitgesprochen. Falsche Zahlen wären dagewesen und Betrug in Sicht.
    Irene hätte lieber diese, bis zur Umkehr in die Städte, hilflosen Finger angesehen als ihre eigenen Hände auf dem Küchentisch.
    Der Mann horchte:
    Vergiß die Wasserleichen nicht, die kommen zu uns geschwommen. Schau her, ich hab einen Berliner Mantel an. Siehst du die Knöpfe.
    Der Mann trug einen Trenchcoat mit drei riesengroßen Knöpfen.
    Du glaubst, daß deine Mütze wiederkehrt. Soll ich dir eine geben.
    Der Mann lächelte:
    Ich nehme keine Gegenstände, ich nehme nur Geld.
    Irene hob einen Apfel aus der Obstschale. Sie zog einen Geldschein hervor und legte den Apfel zurück.
    Du hast das Geld versteckt. Vor wem.
    Vor mir. Ich dachte, ich werd es vergessen. Ich wollte sparen. Irene legte den Geldschein vor die Hand des Mannes auf den Küchentisch.
    Der Mann hob den Zeigefinger, bewegte ihn, wie man den Kopf schüttelt:
    Ich nehme Geld nur auf der Straße.
    Die Knöpfe des Trenchcoats hatten einen Silberrand. Der war hoch. Und die Knöpfe waren tief. Sie waren tiefer als Irenes Kaffeetassen.
    Du kannst heute nacht hier schlafen, sagte Irene.
    Als es zum zweiten Mal läutete, stand sie neben dem Telefon. Sie ließ es viermal läuten, dann hob sie ab.
    Tagchen, sagte Stefan, ich bin wieder in der Stadt. Ich hab oft an dich gedacht in Ramallah, an deinen Satz, daß die Luft Augen hat, wenn alles überwacht ist.
    Bist du beschattet worden, fragte Irene.
    Überwacht. Ich trug meine Mappen und die Soldaten ihre Gewehre. Gleich und gleich, und doch eben nicht. Die Leute hatten Angst, mit mir zu reden.
    Und heimlich.
    Manchmal. Wenn ich nicht so blond wär, wäre das öfter gegangen.
    Und färben.
    Und das Gesicht, und die Augen, sagte Stefan.
    Irene sah im Innenhof das stille Gerüst.
    Ich habe was mitgebracht. Wir können vergleichen, sagte Stefan.
    Ein Gummigeschoß.
    Das Eisen ist dicker geworden und das Gummi noch dünner. Das isn Ei, du wirst sehn.
    Du willst mir eine Kugel zeigen und redest von Eiern.
    Du bist akribisch, du hängst dich an jedes Wort. Wieso hängst du dich an jedes Wort. Wie geht es Thomas.
    Wenn er sich das fragt, öffnet er die Schranktür und sieht sich im Spiegel an. Willst du ihn sehen.
    Nein.
    Er sagt das gleiche. Dann fragt er nach dir. Spiel ich eine Rolle.
    Du bist doch kein Bettler, oder wirst du auch erpreßt. Laß dich nicht beirren. So ist das, sagte Stefan: Eine Frau am Meer lernt einen Studenten kennen. Der Student hat eine Schwester. Die ist vor Jahren die Freundin eines Soziologen gewesen, den sie manchmal trifft. Eines Tages ruft sie an und schickt ihn im Namen ihres Bruders zum Flughafen. Sie sagt: die Frau vom Meer kommt an.
    Der alte Mann winkte.
    Die Wohnungstür fiel ins Schloß.
    So lernt der Soziologe die Frau vom Meer kennen. Stefan lachte:
    Und wie das so geht, der Soziologe kennt einen Buchhändler, der sich im Spätsommer von einem Schauspieler trennt. Der Student und die Frau vom Meer, das ist so wie seltene Nähe und häufige Ferne. Und der Buchhändler ist einsam. Und die Frau vom Meer ist fremd. Und der Soziologe ist oft verreist. Und wie das so geht, da läuft der Buchhändler dem Soziologen den Rang ab.
    Irene schwieg.
    Hab ich wirklich nichts falsch gesagt, oder drückst du manchmal ein Auge zu, fragte Stefan.
    Wenn du böswillig, und wenn du traurig bist, und wenn du von Frauen sprichst, redest du so, daß ich das nicht tun muß.
    Ich geh jetzt zum Friseur, ich bin verwahrlost von der Reise.
    Das hört man.
    Du siehst mich heute abend.
    Vergiß die Gummigeschosse nicht.
    Ich will dich sehen, und du willst vergleichen, sagte Stefan.
    Das Geld lag auf dem Küchentisch, und der Bettler hatte drei grüne Apfel mitgenommen.

    Stefan las die Speisekarte laut vor:
    Seeteufel.
    Was ist Seeteufel, fragte Irene.
    Ein Tier.
    Ich hab nicht an Seerose gedacht.
    Ein Tier aus dem Meer.
    Nichts aus dem Meer.
    Forelle, sagte Stefan.
    Nein.
    Aus den Bergen im Bach.
    Ich weiß. Ich hab nicht an Libellen gedacht.
    Schmeckt gut.
    Eine Weile.
    Heute abend.
    Jahrelang. Die sind vorbei.
    Was hast du gegen Forellen.
    Das andere Land.
    Was hat das mit Fisch zu tun.
    Es muß nicht sein, sagte Irene, daß du, wenn du Fisch ißt, an mich denkst.
    Das will ich doch.
    Das weißt du nicht, sagte Irene.
    Zwischen Irenes Hand und dem Teller lag ein Gummigeschoß.
    Iß ein Stück Brot, dann schmeckt dir der Fisch,
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