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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
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schrieb Dana. Die Bereitschaft, an einer Kleinigkeit zu sterben, war groß. Er wurde in der letzten Zeit zu heiß im Gesicht, und er stürzte sich kopfüber in jeden Augenblick.
    Der Mann, den man nur von hinten sah, war die Hauptperson auf der Collage.
    Irene faltete Danas Brief auf die Größe einer halben Ansichtskarte und steckte ihn ohne Umschlag in die Handtasche.
    Irene merkte, daß sie, auch wenn sie noch vor der Haustür stand, schon mitten in der Stadt war.
    Eine Frau trug eine lebende Rose im Haar.
    Seit drei Tagen sah Irene überall, auf den Straßen, Leute, denen der rechte oder linke Zeigefinger fehlte. Irene fühlte seit heute, dem dritten Tag, daß ihre Zeigefinger gefährdet waren. Sie vermied es, sie zu benutzen.
    Beim Anfassen der Türen, des Telefonhörers, des Bestecks, der Zigaretten und Schlüssel benutzte Irene die Daumen und Mittelfinger. Die Zeigefinger streckte sie von den Gegenständen, die sie berührte, weg. Die Gegenstände vermißten Irenes Zeigefinger nicht. Hatten sich verändert. Verhielten sich, als ob Irenes Zeigefinger überflüssig wären. Nach ein paar Tagen störten die Zeigefinger Irene. Sie waren nicht nur unnütz geworden. Sie waren auch häßlicher und älter geworden als die anderen Finger.
    Da hatte Irene den Wunsch, ihre Zeigefinger mögen verschwinden.
    Irene sah die Stelle am Landwehrkanal, an der sie Thomas begegnet war.
    Schlingpflanzen streuten Blüten wie Mehl. Das Wasser hatte dieselbe Spiegelung wie damals. Zwischen vermoderten Pfählen wuchs ein Gesicht.
    Irene wollte es nicht wahrhaben: Die Frau des Diktators aus dem anderen Land ähnelte Rosa Luxemburg.
    Es war eine Verwünschung des Gesichts von Rosa Luxemburg. Die Frau des Diktators hatte dieses Gesicht längst ins Alter getragen. Sie war Diktatorin.
    Abends ging sie neben dem Diktator durch die Villa. Sie suchte in den vielen Räumen einen sicheren Platzfür den Schlaf. Diener trugen Betten an horchendem Samt vorbei, durch die Türen.
    In der Villa wurde die Nacht vermessen. Die Wachmannschaften und Hunde wechselten die Richtung, wenn das Laub vom Regen glänzte.
    Im Land schlief die Armut.
    Ein Vogel raschelte in den Zweigen. Rote Hagebutten wuchsen im Gebüsch. Irene ging auf und ab in der Bushaltestelle.
    Zwei Frauen saßen auf der Bank.
    Ich habe mir noch nie was zugezogen, sagte die eine, ich koch meine Wäsche aus.
    Albert wird denken, es ist mir was passiert, sagte die andere Frau.
    Der Bus fuhr langsam. Ließ alle Wagen an sich vorbei. Er war voll mit kleinen Gesichtern. Die schaukelten, als der Bus hielt.
    Ein Mann küßte eine viel jüngere Frau.
    Die Straße floß zusammen, daß der Bus nur knapp an den Häusern vorbeikam. Eine bis zum letzten Winkel ausgedachte Stille lag auf den Dächern. Nichts kam gegen sie an, kein Wind und kein Motor. Am wenigsten die kleinen, schwindligen Gesichter. Sie schwiegen. Es war kein ausgedachtes Schweigen.
    Das Schweigen im fahrenden Bus machte sich vor der ausgedachten Stille über den Dächern lächerlich.
    In der Fußgängerzone wimmelte es vor Köpfen, und Taschen und Schuhen.
    Da tauchte in den Nachmittag mitten vom Himmel eine unerwartete Uhrzeit herab. Es war Ladenschluß.
    Die Passanten verließen die Straße so rasch, alswürde, wer die Uhrzeit überschritt, von der Straße geschluckt.
    Unter den verschlossenen Ladentüren krochen Wasserstreifen auf den Asphalt. Verkäuferinnen huschten noch um die Ecken.
    Dann war die Fußgängerzone leer. Die Sonne zuckte. Die Wasserstreifen kamen nicht weit.
    Aus einer Seitenstraße trat ein Mann. Er trug ein Handtuch zusammengerollt unterm Arm. Er fragte Irene nach dem öffentlichen Bad. Er war Ausländer. Seine Stimme war so unsicher, als wäre er versehentlich in eine unbewohnte Stadt gereist.
    Irene sah das Handtuch, seine Strandschuhe. Konnte den Mund nicht öffnen. Da war er schon gegangen.
    Da war, wo er gestanden hatte, ein Schaufenster. In kleinen Schachteln strahlte von der Sonne großäugiges Gold mit blutigen Rubinen.
    Irene dachte, es müsse Scherben geben, Möbel und Glas zerbrechen, weil sich die Straße diesem Licht nach, über die Dächer hob.
    Irene überquerte die Straße bei Rot. Lief knapp vor den Autos her. Atmete rasch, hatte sowohl das Gefühl, sich in Lebensgefahr zu begeben, als auch, sich das Leben zu retten.
    Weder tot noch lebendig, dachte Irene. Es war fast Freude. An manchen Tagen verließ Irene das Haus, als wäre sie auf einen Unfall vorbereitet.
    Schon, wenn sie durch den Innenhof
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