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Eisprinzessin

Eisprinzessin

Titel: Eisprinzessin
Autoren: Lisa Graf-Riemann
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EINS
    Er hatte Angst, zu spät zu kommen. Er wusste, es würde heute passieren. Er hatte sie am Telefon belauscht. Obwohl sie nicht gewusst hatte, dass er in der Nähe war, hatte sie geflüstert. Und leise gelacht. Es tat weh, dieses Lachen zu hören. Sein Magen zog sich davon zusammen, und sein Bauch wurde ganz hart. Es war wie ein Krampf. Er zitterte, aber er lauschte weiter, und was er verstand, reichte, um ihn in Panik zu versetzen. Man musste etwas tun, man konnte es doch nicht einfach so geschehen lassen. Es hing von ihm ab. Er musste etwas tun. Kein anderer.
    Er fuhr, so schnell er konnte, und war so aufgeregt, dass er nichts von der Kälte merkte, nichts von der Dunkelheit. Hätte man ihn gefragt, ob es draußen fünfzehn Grad plus oder fünf Grad minus hatte, er hätte es nicht sagen können. Auch nicht, ob es noch hell war, dämmerte oder schon dunkel war. Er beeilte sich und brachte die gesamte Fahrt über keinen einzigen klaren Gedanken zustande. Es war, als gehöre sein Kopf nicht mehr ihm, als reagiere sein Hirn nicht mehr auf seine Fragen. Er hatte keine Ahnung, was er tun würde, wenn er dort wäre. Warum er überhaupt hinfuhr, was er dort erleben würde, ob er sich versteckt halten oder zeigen würde, ob er etwas sagen oder schweigen würde. Er war schlecht vorbereitet auf die Aufgabe, die er übernommen hatte. Die Rolle passte nicht zu ihm, oder er passte nicht zu dieser Rolle, wie auch immer, sie war einfach eine Nummer zu groß für ihn. Wer war er schon, gerade er? Was würde er tun? Er hatte keine Ahnung. Aber die ganze Fahrt über, als sein Kopf ihm nicht mehr gehorchte und sein Bauch hart war wie ein Brett, wusste er eines: Er musste einfach dorthin.
    Als er an die beschriebene Stelle kam, stellte er fest, dass er der Erste war. Kein Auto, kein Mensch zu sehen. Er nahm den unrhythmischen, aber gleichförmigen Verkehrslärm der Autobahn wahr und schlich sich zur Rückwand der großen Halle, tastete sich am Gebäude entlang, spürte den rauen Verputz, der sich da und dort vom Untergrund löste und wie Sand von seinen tastenden Fingerkuppen bröckelte. Er spürte die leichte Feuchtigkeit des Mörtels an seinen Händen und dann etwas Weiches, Felliges, das seine Beine streifte. Erschrocken sprang er zur Seite und sah eine nachtschwarze Katze mit zuckender weißer Schwanzspitze hinter der Halle in Richtung Brachland verschwinden. Gänsehaut kroch ihm vom Hinterkopf hinauf bis zur Schädeldecke. Die Sinneseindrücke überfielen ihn wie eine plötzliche Krankheit, er konnte sich nicht dagegen wehren. Obwohl niemand da war, spürte er diesen Zwang zu bleiben. Vielleicht hatte das Tier ihn warnen, ihm etwas mitteilen wollen, und er verstand es nicht. Er verstand es einfach nicht.
    Also blieb er, wo er war, und zitterte vor Kälte und Angst. Er biss die Zähne zusammen und ertrug es. Und dann war sie plötzlich da. Er hatte weder Motorenlärm gehört noch gesehen, wie sie gekommen war, aber da war sie. Sie näherte sich der Stahltür an der Rückseite des Gebäudes und sah aus wie von einem schwachen Lichtstrahl angeleuchtet. Er konnte sich nicht erklären, woher das Licht kam, kalt wie das des Mondes in einer Vollmondnacht. Im Schatten der Wand stehend beobachtete er, wie sie die Tür mit einem Schlüssel öffnete und hineinschlüpfte. Einem Fächer gleich fiel das Licht auf den Boden vor der Halle. Er schlich näher und sah durch den Spalt in die Halle hinein.
    Ein dunkelgrüner Koffer stand da und daneben eine Reisetasche, ebenso hässlich grün, mit braunem Ledergriff und Verstärkungen an den Ecken. Er konnte noch immer keinen vernünftigen Gedanken fassen, aber irgendeine Kraft, die außerhalb seiner selbst lag, stieß ihn in die Halle hinein, und eine fremde, kalte Stimme, die er als seine eigene erkannte, zischte: »Was tust du da?«
    Sie erschrak, drehte sich blitzschnell zu ihm um, und er sah, dass sie Angst vor ihm hatte und ihr der Schweiß auf der Stirn stand. Und dabei war es so kalt hier. Ihr Gesicht schimmerte milchig, ihr helles Haar war ganz stumpf. Sie setzte sich auf ihren Koffer und schloss für einen Moment die Augen. Sie atmete heftig. Als sie den Kopf wieder hob und ihn ansah, hatte sie sich wieder in die Frau zurückverwandelt, die er kannte.
    »Und du?«, fragte sie ihn und stand auf. »Was machst du hier?«
    Er lief zur Tür, knallte sie zu und zog den Schlüssel ab.
    »Was soll das?«, fuhr sie ihn an und hob die Hand, als wollte sie ihn schlagen.
    Er fing ihre Hand ab,
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