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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
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Bett. Spürte, wie das Zimmer in schmalen Rinnsalen zum Fenster hinauszog, in die leere Fläche, wo die Dunkelheit noch größer war.
    Im Dunkeln konnte Irene nicht weinen.
    Irene verschwand in den Schlaf.
    Bis der Tag in die Augen schnitt.
    Franz kam nackt aus dem Bad. Ein Lichtfleck tastete sich an der Wand entlang, neben dem Bett. Franz setzte sich auf den Bettrand.
    Gestern abend, sagte er.
    Wie kommst du hierher.
    Ich weiß nicht mehr viel.
    Ich auch nicht, sagte Irene. Ich hab die Ausreise beantragt.
    Es ist der letzte Sommer. Ich warte auf den Paß.
    Franz nickte.
    Ich hab dich geschleppt, sagte Irene. Du warst schwer.
    Franz streichelte Irenes Finger.
    Dieses Meer, sagte Franz.
    Schaute zur Decke. Irene berührte den Lichtfleck neben dem Bett.
    Franz zog Irenes Finger aus dem Lichtfleck und küßte sie. Schaute auf sein leeres, zerwühltes Bett. Dann zum Fenster hinaus mit halbverdrehtem Kopf. Die Sonne war groß.
    Was essen die Leute im Dorf.
    Fisch.
    Und am Morgen.
    Fisch.
    Und die Kinder.
    Fisch.
    Irene spürte, wie ihr Tränen an den Schläfen runter und in die Ohren krochen.
    Ich will mich waschen, das ist besser als Weinen. Ich hab den Tag von gestern noch an mir.
    Franz legte sich auf sie:
    Ich will mit dir schlafen.
    Der Lichtfleck drehte sich, flimmerte. Dann war Irenes Kopf zugeklappt. Ihre Augen geschlossen. Ihr Blick bohrte sich nach innen Gänge durch den ganzen Körper. Sie spürte Franz, seine Knochen, als gehörten sie zu ihr.
    Der Körper war heiß und fand die richtigen Worte. Der ganze Körper dachte mit, dachte nach, wenn Irene was sagte.
    Danach stand Irene mit Franz am Bahnhof. Franz fuhr nach Marburg.
    Irene hatte ein Stück Papier mit seiner Anschrift in der Tasche. Und im Kopf die Zeichnung aus Sand. Und das Pappelblatt, das Franz dort hingelegt hatte, wo Marburg lag. Und den Stein, den Franz dort hingelegt hatte, wo Frankfurt lag.
    Irene weigerte sich an Abschied zu denken.
    Dann war der Zug weggefahren.
    Irene war durch die Pappelallee ins Dorf gegangen. Hatte eines der Kinder, die abends in der Kneipe waren, vor einem Haus gesehen. Wind hatte geweht. Sträucher hatten sich bewegt neben Irenes Beinen.
    Aus den Augen verlieren, hatte Franz gesagt.
    Und Irene: Aus dem Sinn.
    Unsinn, hatte Franz gesagt.
    Irene ging zur Post. Irene kaufte eine Ansichtskarte, auf der die Bucht war.
    Irene schrieb:
    Eigentlich will ich gar nicht, daß du mir schreibst. Ich würde dir antworten. Dabei will ich dir doch schreiben. Das ist ein Unterschied.
    Wann glaubst du, daß du kommst, hatte Franz gefragt.
    Irene schickte die Karte voraus. Ließ sie in den Briefkasten, nach Marburg fallen. Hörte sie aufschlagen, als wäre sie nicht mehr ganz. Der Briefkasten war leer.
    Das Geräusch auf dem Boden des Briefkastens war das Geräusch der Unruhe gewesen. Unruhe, die Irene selber war. Ungeduld und Warten auf den Paß.
    Die Telefonistin aß Fisch.
    Zimmer mit Blick in die Ferne, sagte Irene laut.
    Die Telefonistin lächelte: Zog einen spitzen, weißen Knochen aus dem Mund.
    Dann tobte das Meer. Irene war weit gegangen, die Küste entlang.
    Irene war rasch gegangen. Sie wollte pünktlich sein.
    Zwei Abende hatte sie gefehlt.
    Irene blieb im Sand stehn. Der Strauch wehte nur vom Wind.
    Der Mann war nicht da gewesen.
    Das Wasser schlug unter die Kähne. Riß sie mit und schwemmte sie wieder in den Sand. Das Holz knirschte.
    Irene hörte Stimmen, kichernde Stimmen.
    Eine Pappel bewegte sich. Nicht vom Wind. Hinter der Pappel stand der Mann und rieb sein Glied.
    Drei Mädchen saßen unter ihm im Sand. Sie aßen Fisch. Sie kicherten.

2
    SIE HABEN die Augen geschlossen, hatte der Photograph gesagt. Sie schauen so ernst, denken Sie an etwas Schönes.
    Ich kann nicht, hatte Irene gesagt, ich will auch nicht.
    Er hatte geknipst.
    Sie pressen die Lippen zusammen.
    Irene hatte die Lippen zusammengepreßt, um die Augen nicht zu schließen.
    Wenn Sie sich sehen würden, hatte er gesagt, würden Sie lächeln.
    Er hatte geknipst.
    Wenn Sie wüßten, wie es hinter meinen Augen aussieht.
    Irene hatte den Satz nicht zu Ende gesagt. Hatte den Satz auch nicht zu Ende gedacht.
    Er hatte geknipst.
    Sie können die Augen öffnen. Was hinter den Augen ist, sieht man nicht. Bei mir nicht. Wollen Sie, daß man das sieht.
    Ich hätte nichts dagegen. Es ist mir gleich.
    Haben Sie nichts dagegen, oder ist es Ihnen gleich.
    Sie sagen, man sieht es nicht. Weshalb soll ich mich entscheiden.
    Weil es Sie beschäftigt, sonst hätten Sie das
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